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Weingüter des schweizerischen AdelsZur Verküpfung von Nobilität und Weinanbau in der EidgenossenschaftEine schweizerische Zeitung beschrieb 1902 einen Vereinsausflug von besonders geschichtlich interessierten Schweizer*innen, die ihrer Affinität zu ihrer Beschäftigung halber, einen historischen Ort aufsuchten: „Letzten Sonntag machte die antiquarisch-historische Gesellschaft des Kantons Zürich einen Ausflug nach dem obern Thurgau, nicht sowohl um die schöne Gegend mit Grabungen und Messungen unsicher zu machen; als um nach einer schon öfters geübten Sitte mit dem historischen Verein von St. Gallen zusammen zu kommen und die herzlichen Freundschaftsbeziehungen, die von den beiden langjährigen Präsidenten, Prof. Meyer von Knonau und Dr. Wartmann auf die Vereine selber übergegangen sind, zu pflegen. Ort der Zusammenkunft, der 11. seit 1875, war das Schloß Hagenwil, der Typus eines Weiherhauses, über den ein antiquarisches Herz wohl in Entzücken geraten konnte. Inmitten eines mit den prachtvollsten Seerosen bewachsenen Teiches, in dem ganze Rudel Karpfen auf hineingeworfene Stücke Brot Jagd machen, erhebt sich die malerische Burg und über das Gewässer führt eine leibhaftige Zugbrücke, nach Professor Rahn die einzige, die sich in der Schweiz erhalten hat. In dem Schloßgebäude haben die verschiedenen Jahrhunderte vom 13. an, dem der gewaltige Turm seine Entstehung verdankt, bis zum 18., wo es zum zeitweiligen Aufenthalt seines damaligen Herrn, des Fürstabts von St. Gallen, eingerichtet wurde, ihre Spuren hinterlassen. Heute ist der Sitz der Ritter von Hagenwil und des Fürstabts von St. Gallen zum gastlichen Wirtshaus geworden, in dessen kühlem Saale sich vortrefflich tafeln läßt, zumal in so guter Gesellschaft, wie sie die allezeit muntern St. Galler uns Zürchern geboten haben.“ [1] In der Tat ist die Beschreibung der architektonischen Wirkung von Schloß Hagenwil auch heute noch nachvollziehbar. Denn zwei pensionierte Journalisten, Andreas Z‘Graggen und Markus Gisler, haben sich drei Jahre – seit 2019 – lang auf den Weg gemacht und suchten Schlösser und Herrensitze in der Schweiz auf, die in Verbindungen mit der Weinkelterei und dem Rebanbau standen. Beiden gemein ist sowohl das Interesse am Wein als auch das an Geschichte. Entstanden ist daraus ein farbenprächtiger und mächtiger Bild- und Textband, der sowohl die Weingüter als auch Besitzende portraitiert, die vor allem dem ehemaligen schweizerischen Adel angehörten. [2] Denn Andreas Z‘Graggen hatte schon ein Vorgängerwerk verfaßt, ein Werk über „Adel in der Schweiz“. [3] Er fragte sich, wie es den Familien mit den Gütern eigentlich heute erging; so entstand die Idee zum Buch, das, weil es vor allem Personen und Familien aufsucht, die nicht von öffentlichem Interesse sind (Seite 4), besonders eindrucksvolle Blicke in den „inner circle“ des historischen schweizerischen Adels bietet. Auch das Schloß Hagenwil wird portraitiert, oder, besser formuliert, die Lebensgemeinschaft zwischen dem Schloß, den es bewohnenden Menschen und Tieren sowie der umliegenden Kulturlandschaft (Seite 288-293). Hagenwil beeindruckt noch heute durch seine Wehrhaftigkeit, den auf den Grundmauern aufgesetzten Fachwerkbau, das geduckte Dach und den umlaufenden Weiher – und auch jetzt noch, im 21. Jahrhundert – macht der rechteckige Zugbrückenturm einen wehrhaften Eindruck. An Hagenwils Beispiel soll nun nachvollzogen werden, wie jeder einzele Herrensitz in dem prächtigen Band umschrieben wurde; denn die Vorstellung der „Praktiken-Arrangement-Geflechte“ laufen stets nach einem festen Muster ab. Neben groß- und kleinerformatigen Aufnahmen, auch stets Luftaufnahmen, die mittels einer Drohne aufgenommen worden sind, erfolgt nach der ersten Doppelbildseite ein bebilderter Text mit der älteren und jüngeren Geschichte des Herrensitzes; hier setzt dieser Text als Geschichte mit "rotem Faden“ mit einer Gründungserzählung ein, die im 13. Jahrhundert beginnt. Ab 1684 war Hagenwil dann Sommerresidenz der Sankt Gallener Fürstäbte. Nach Auflösung der Helvetik folgte auch die Aufhebung des Klosters und seiner Besitztümer; 1806 ging Hagenwil in den Besitz des bisherigen Pächters Johannes Benedikt Angehrn über. Dessen Nachkommen wirtschaften und leben immer noch, mittlerweile in sechster Generation, auf dem Schlosse; die Familie war aus dem Bauernstand bis in den Klerus und den Großen Rat in Sankt Gallen aufgestiegen. Der Weinberg der Angehrns ist übersichtlich, ein Hektar Rebberg liegt in unmittelbarer Nähe zum Schloß, in offener hügeliger Landschaft, eher weniger an einem klassischen Weinberg. Die hier produzierten Weine werden zuletzt, in jedem Herrensitzportrait, auch mit einer Internetadresse versehen und vorgestellt, in ihrer Weinsorte als auch den speziellen Charakteristika von Lage und Geschmack vorgestellt. Abgebildet werden auch Vorfahren und aktuelle Besitzende in ihrem Interieur auf dem jeweiligen Herrensitz, hier Andreas Alphons Angehrn im sogenannten „Großmutterstübli“, einem vertäfelten hölzernen Zimmer mit großem Kachelofen, auf den allein durch bleiverglaste Hexagonfenster Licht fällt. Heute wird das Schloß durch Vermietungen und Wein mitfinanziert, Hochzeiten, Firmenfeiern und ähnliche soziale Veranstaltungen helfen dazu, den historischen Ort zu erhalten. Dabei spielt nicht zuletzt auch die Architektur, die Jahrhunderte über gepflegt wurde, eine bedeutende Rolle, verleiht dem Ort, wie vielen vergleichbaren Orten auch, eine besonderes Air, so daß sich diese Art der Vergangenheitsbewirtschaftung in der Moderne anbietet, um die hohen Kosten der Unterhaltung aufzubringen. Aber nicht nur die Familien werden in einer Besitzerabfolge vorgestellt, immer wieder greifen die beiden Verfassenden auch herausragende Biographien berühmter Familienvertreter heraus, zeigen sie in Wort und Bild. Von besonderer ikonographischer Qualität sind die Interieurfotos, die die Besitzenden der Weingüter (überwiegend) in ihren Privaträumen, in den jeweiligen Herrensitzen, zeigen. Ihre Haltung, das Netzwerk, das sie mit den Artefakten bilden und dem jeweiligen Raum, ist häufig aristokratisch und es läßt sich hier eindrücklich das jeweilige Akteur-Netzwerk ersehen, das „Adel“ ureigentlich in einer Melange – einem Rhizom aus Praktiken, Menschen und Dingen – konstruiert und erzeugt; in einigen wenigen Fällen ließen sich die Besitzenden in der Natur ablichten, die Salonbilder blieben daher reine Interieurstudien (Seite 174-178). [4] Dabei dürften die Bilder in einer Mischung aus Selbstdarstellung und Fotografenwünschen entstanden sein. Der Band ist aber nicht nur ein großformatiger wie großartiger Bildband, er ist in anderer Hinsicht auch typisch für die „anekdotische Evidenz“ adeliger Familiengeschichten, die hier im Parforceritt durch die Historie mit kurzer Erzählzeit ausgebreitet werden. [5] Dort werden große Zeitabschnitte elegant übersprungen, dafür an einzelnen besonderen Punkten unterbrochen und breit geschildert; etwa bei der Familie de Mestral, deren Memoria heute bis in 24. Generation zurück existiert; dort wird über eine Schlacht berichtet, in der sich Mestrals, wegen ihrer internationalen Ausbreitung, als Kriegsgegner im Militärdienst 1709 gegenüberstanden. An dieser Familie sieht man aber auch, wie Adelsfamilien „obenblieben“, Resilienz zeigten, zu Innovatorinnen wurden: [6] Charles de Mestral erfand, nach einer Inspiration auf der Jagd, durch Beobachten und genaues Betrachten der Früchte der Großen Klette, den später von ihm industriell nachgebauten Klettverschluß. Schon im 18. Jahrhundert, mit dem Bau des Chateau de Vullierens (im Kanton Waadt), wurden hier auch „neue“ Traditionen erschaffen, die bis heute gepflegt werden: Tapisserien durften, einem Testament eines der Besitzenden zufolge, nicht verändert werden; auf diese Weise hat das Chateau, wie so viele andere ähnliche Herrenhäuser, seinen alten Charakter bewahrt. Hier, wie andernorts auch, ist die Rebfläche vermietet (Seite 84-85), obschon es auch genügend Besitzende aus dem Adel sind, die selbst önologisch ausgebildet sind und ihr Weinschloßgut bewirtschaften (Seite 150-153). Adel und Wein in einem Buch zusammenzubringen, mit den sensiblen Bildern und erläuternden Texten zu kombinieren, ist ein überraschendes gut aufgehendes Konzept, wenngleich eigentlich naheliegend, wurden doch bisweilen beide Entitäten als elitär angesehen, der Wein als „nobilitierter Alkohol“ besehen, [7] die Fachsprache der Önolog*innen und die Rituale des Weingenusses ähnelten durch die Abgegrenztheit ihrer Begriffe und Hantierungen – von „Vordegustationen“ bis „Sekundäraromen“ – den Adelssoziolekten, indem bestimmte Begriffe differenzierte Bedeutungen besaßen, die nur Eingeweihten vorbehalten waren. So ließen sich und lassen sich noch immer allein an der Schriftsprachverwendung Nicht/Weinkenner und Nicht/Adelige voneinander unterscheiden. Und auch wenn man heute durch önologische Ausbildung zumindest das Wein-Wissen erwerben kann, den Habiuts vormaligen Adels kann man nicht erlernen, er wird nur in Familien der Erinnerungsgemeinschaft des historischen Adels sozialisiert – und dafür braucht es eine Ressource, die der Adel traditionell hat: Zeit. So ist es nicht verwunderlich, daß Familien des historischen Adels auch heute noch, wie über Jahrhunderte, Weinbau betrieben. In einem größeren Zusammenhang zeigt sich damit, daß der Weinbau ebenso wie das wirtschaftliche Engagement in anderen Gegenden – Bergbau an der Ruhr oder in Schlesien – zu den lokal und regional spezialisierten Erwerbszweigen gehörte, die der Adel nutzbringend zu verwerten suchte und wußte. Daß Weinbau in der Schweiz dabei hervorragend auch von der alten Nobilität betrieben wurde, hat das in Rede stehende Table-Book mit der ebenso eindrucksvollen wie bildgewaltigen Vorstellung von insgesamt 40 Weinbauschlössern und -familien zwischen Wallis und Graubünden, Tessin und Genf – die meisten davon zu Familien der Erinnerungsgemeinschaft des Adels gehörend – auf eine ästhetisch sehr ansprechende Art und Weise aufgezeigt. Über die nationale und territoriale (schweizerische) Bedeutung hinaus verdeutlicht es zudem die Übereinstimmung mit einem Kanon wichtiger Grundelemente, die „den Adel“ in Europa ausgemacht hat und wie er von der Forschung schon mehrfach, wenn auch in Details differenziert, ermittelt worden ist: Adel war eine, zumindest im europäischen Raum, gedachte soziale Gemeinschaft ähnlicher Individuen, Familien und Artefakte mit ähnlichen Vorlieben und ähnlichem Habitus. [8] Dieser Aufsatz stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., M.A., B.A., und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form. Annotationen:
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