Institut Deutsche Adelsforschung
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Medien und Materialität bei historischer Adelsanrufung

Zur myrioramatischen Rolle der Medien bei der Erzeugung sozialer Zuschreibungen
 
Der Autor Franz von Löher schilderte 1889 in einer österreichischen Zeitung in einem Narrativ, wie er sich einen sozialen Rollenwechsel in den entstehenden Adel vorstellte; er notierte dazu: „Gehen wir näher auf die Bedeutung des Ritterschlages ein, so bietet sich uns keine belehrendere Stelle dar als die [...] des Johannes von Beka über den Ritterschlag König Wilhelms von Holland; denn der Verfasser, der 1345 seine Chronik beendete, will hier in der ersten Zeit des Sinkens des Ritterthums absichtlich das Wesen und die Bedeutung des Ritterordens auseinandersetzen. Er beginnt seine Erzählung mit der Bemerkung: `Weil die meisten Ritter seinerzeit auf Sparsamkeit bedacht, kostspielige Feierlichkeiten weglassend, höchstens durch den Backenstreich die ritterliche Würde empfingen und deßhalb viele die Regel dieses Ordens, schuldigen Ritterdienst zu thun, nicht wußten, so wolle er diese Sache etwas ausführlicher behandeln und es für werth halten, zu beschreiben, wie dieser Wilhelm gemäß der christlichen Einrichtung Ritter geworden und das Gelübde des Ritterordens mit der größten Feierlichkeit abgelegt habe, damit daraus die jetzigen Ritter lernen sollten, welches Joch sie durch ihren Orden auf sich genommen und wenigstens, welches Gelübde sie bei Bekenntniß ihrer Ordensregel abgelegt hätten.“ [1]

Deutlich wird an dieser Schilderung, daß es eine besondere Verbindung zu geben schien, die sich in der Hybridisierung von Materie und Symbol äußerte. Die Materie war hierbei zunächst der Körper der beteiligten Akteur*innen, an dem oder von dem ausgehend bestimmte kommunikative Handlungen sowohl verbal als auch nonverbal vollzogen wurden (Backenstreich, Gelübde aussprechen). Zugleich waren diese Körperhandlungen hochsymbolisch, da sie keinem praktischen Zweck dienten. Sie erzeugten keine Produkte, veredelten sie nicht, sie dienten nicht der Produktion von etwas Materiellem, von Nahrung oder Technik. Allerdings produzierten sie, und dies war ihre Besonderheit, immaterielle Verhältnisse oder Produkte, die über das Mittel der Performanz (eine Transformation unter kompetenten Anwesenden mittels der Ritualform) einzelnen Individuen in einer Gemeinschaft neue soziale Rollen und einen neuen sozialen Status zuschrieb. Erzeugt wurde so mithilfe von Materiellem und Symbolischem eine neue Relation von Gliedern einer begrenzten Gruppenbildung, zugleich erfolgte eine Neueinrichtung dieser Gruppenbildung, eröffnete einen kleinen Blick auf eine vorübergehende Momentaufnahme sozialer Zusammensetzung.
 
Daß die angesprochene Verknüpfung als unauflöslich proklamiert wird, ist indes eine Position, die bei der Verbindung zwischen Symbol und Materie nun auch eine weitere Erörterung und Fundierung in einer Zeitschriftenausgabe gefunden hat, einem Themenheft, das den Titel „Semiotische Medientheorien“ trägt und innerhalb der „Zeitschrift für Semiotik“ erschienen ist. [2] Der Band mit sechs Aufsätzen möchte sich der „grundlegenden Reflexion des Verhältnisses zwischen den Konzepten Zeichen(system), Medium, Kommunikation und Multimodalität“ widmen (Seite 3). Hierbei geht es darum, von der allzu einseitigen Betrachtung einzelner Phänomene aus Sicht einzelner Wissenschaftsdisziplinen abzusehen und eine interdisziplinäre Sichtweise einzunehmen – und Kontingenz und Komplexität nicht vorschnell zu reduzieren. Dies ist beispielsweise fast regelmäßig der Fall bei der Forschung zu Hochstaplern, die vorgeben, Adelige zu sein; hier geht die  Darstellung solcher Fälle oft vom Ende der Erzählung aus: Erzählende wie Zuhörende kennen bereits den Ausgang der Adelshochstapelei, deswegen kann die Situation, in der die Hochstapelei stattfand, nicht mehr neutral und ergebnisoffen präsentiert werden.

Unbeachtet bleibt daher oft, daß die Akteur*innen einer Hochstapelei bis zum Zeitpunkt der Aufdeckung der Hochstapelei nichts von einer Hochstapelei wußten. [3] In historischen Situationen, das wird bei dieser Rücknahme der Sicht deutlich, gab es aber immer differenzierte Möglichkeiten, zu entscheiden und zu handeln und nicht nur den einen Weg, der letztlich dann eingeschlagen und in einem – chronologisch nachfolgenden – Narrativ vermittelt oder erzählt wurde, auch bisweilen im Nachhinein als einzig gangbar erscheint.

Begleitet wird indes die im Gegensatz dazu stehende Perspektive interdisziplinäre und eher grenzüberschreitende Forschung von einigen Vor- wie Nachteilen. Als Vorteil kann gelten, daß das Übertreten disziplinärer Grenzen und die Beachtung von situativer Vielfältigkeit den Blick weitet und Erkenntnisse ermöglicht, die vorher nicht möglich gewesen sind, darin besteht auch im vorliegenden Falle eine große Chance. Als Risiko freilich kann Multimodalität dann gesehen werden, wenn damit keine verwertbaren Aussagen mehr getroffen werden können. Doch überwiegen in der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift zu den „semiotischen Medientheorien“ eher die Chancen, die vielfältig genützt worden sind. So kann beispielsweise die Frage angegangen werden, was und wie Artefakte (bloße Materialität) symbolisch und als Zeichen aufgeladen oder imprägniert werden. In den einzelnen Beiträgen selbst werden theoretische Fundierungen für künftige Forschungen gelegt, so mit dem Affordanzbegriff (Seite 37-61), aber auch mit der Feststellung oder Beobachtung, daß Gemeinschaften (wie beispielsweise, wäre hier zu ergänzen: „der Adel“) sich unter anderem darüber konstituieren, daß sie eine gemeinsame Betätigung einer bestimmten Form von Praxis mit Dingen vollziehen und daß sie ferner ein bestimmtes gemeinschaftliches Maß an Wissen und Können, wie mit diesen Dingen umzugehen ist, teilen.  Das gegenseitig individuell zu beobachtenden Tun mit Dingen kann daher das Gemeinschaftsmitglied konstituieren; ein interessanter Gedanke, der in Anwendung auf den Adel besonders geeignet erscheint. Denn um als Adeliger von Institutionen und sozialen Umwelten anerkannt zu werden, kam es daher nicht nur darauf an, einige mit Adeligkeit imprägnierte Dinge bei sich zu führen, zu benützen oder in Gebrauch zu nehmen, sondern vielmehr darauf, sie auf eine bestimmte Weise zu handhaben. Es waren hier zwar nicht opake oder klandestine Handhabungen der Dinge, aber doch solche, die oft nur in langer Imitation sozialer Bezugspersonen erfolgen konnten (soll heißen durch Sozialisation).
 
In dieser Hinsicht symptomatisch ist ein bemerkenswerter historischer Fall, in dem eben eine solche Sozialisation nicht stattfand und daher die Anerkennung der Zugehörigkeit zum Adel nur zeitlich begrenzt wirkte. So hatte 1889 ein Nichtadeliger versucht, durch Benützung eines semiotisch aufgeladenen tierischen Körpers (mithin von lebender „Materie“) eine Adelsvisibilisierung durchzuführen, scheiterte daran jedoch wegen fehlenden Erwerbs des rechten (soll heißen allgemein adelsgruppenbidungsspezifischen) Umgangs damit. Dazu notierte ein Anonymus, daß sich ein „Handlungskommis Josef Goldberger [...] in verschiedenen Provinzstädten Ungarns und auch in Budapest bald für einen Grafen Wenckheim, bald für einen Grafen Degenfeld ausgegeben [hätte, dabei habe er außerdem] […] verschiedenen leichtgläubigen Personen Geld und Waaren herauszuschwindeln gewußt. Der Hochstapler, der es verstand, sich ein Ansehen zu geben und der sich auch in aristokratische Kreise drängte, wurde in Erlau entlarvt. Bei einem Spazierritt, den er mit mehreren Kavalieren unternahm, stellte es sich nämlich heraus, daß er, 'ein Graf Wenckheim' gar nicht reiten könne. Dies bildete den ersten Verdachtsgrund gegen ihn, der dann nach und nach zur vollständigen Entdeckung seiner Schwindeleien führte. Am letzten Freitag fand die Schlußverhandluug gegen den Pseudo-Grafen vor dem Erlauer königlichen Gerichtshofe statt. Josef Goldberger wurde wegen mehrfacher Betrugsfakten und wegen Benützung falscher Namen zu drei Jahren Kerker und zu fünf Jahren Amtsverlust verurtheilt.“ [4]

Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft des Adels war daher für die sozialen Umwelten unter anderem an die Fähigkeit eines galanten und sicheren (reitenden) Umgangs mit Pferden abzulesen, zumindest zeit- und ortsgebunden für Österreich-Ungarn am Ende des 19. Jahrhunderts. Es genügte daher nicht, bestimmte Artefakte zu besitzen, sie mußten auch regelgerecht gehandhabt werden, nach bestimmten (teils nur langsam und durch viel Übung erlernbaren) Codices, die in Verbindung mit der Benützung dieser Materialität sozial wirkten (Seite 65). Auch sind Zeichen fluide in ihrem symbolischen Gehalt, mußten sie doch „richtig“ de/codiert werden, was in kommunikativen Prozessen keine Selbstverständlichkeit war. Teils war indes der Gebrauch bestimmter Dinge für bestimmte Personen(gruppenbildungen) verboten, zu denken wäre nur an Kleiderordnungen, die die ständische Kleidung in der Vormoderne reglementierten. [5] Auch bei der Zulassung der ersten Tragesänften, die aus den oberitalienischen Städten in die deutschsprachigen Länder importiert worden waren, [6] hieß es: „Heinrich Ernst von Rauchmüller, k. k. Kammerdiener, war der Erste, welcher am 20. Juny 1703 die Erlaubniß erhielt, Tragsessel in Wien zu halten. Es dürfte jedoch in diesen Sesseln weder ein Kranker, noch Jude, noch Jemand in der Livree, noch eine andere unbedeutende Person getragen werden.“ [7]

Doch gab es auch multimodale Medien, die es ermöglichten, sich erst nach und nach einen Habitus anzugewöhnen, wenn nur das Ensemble stimmte. So erschien beispielhaft dafür eine Verkaufsannonce in einer Berliner Zeitung (1909): „Altadliges Rittergut in Thüringen in landschaftlich reizvoller Lage, 25 Minuten Chaussee von Stadt und Bahn, in Sachsen-Weimar-Eisenach, ist zu verkaufen. Die Besitzung ist 690 Morgen groß, wovon 517 Morgen Acker, 60 Morgen Wiesen, 61 Morgen Nadel- und 12 Morgen Laubwald, Rest ist Gärten, Park, Hofraum,Wasser pp. Der Acker (zum großen Teil ein kräftiger, zum kleineren Teil ein milder Lehmboden) befindet sich in hoher Kultur, Wiesen sind von vorzüglichster Beschaffenheit, der Wald ist gut gepflegt. Das schloßartige geräumige Herrenhaus liegt vom Wirtschaftshofe getrennt in einem großen alten Parke. Gute, massive Wirtschaftsgebäude, vorzügliches Inventar, wertvolle Ernte. Die Besitzung liegt sehr gut arrondiert in vornehmer Abgeschlossenheit zum größten Teil von fiskalischen Forsten umgeben. Die jagdlichen Verhältnisse sind daher äußerst günstige. Rentabilität nachweisbar. Nähere Auskunft wird erteilt unter F. 7959 durch Daube & Co., Berlin SW, Jerusalemer Straße 53-54.“ [8]

Allerdings bestimmte dann die Affordanz oder Wahrnehmungsweise (dazu in der Zeitschrift Seite 42-43), wie dieser Landbesitz aufgenommen und rezipiert worden ist, als imponierender Grundbesitz einerseits oder Mittel zur Feudalausbeutung von Bauern oder Leibeigenen andererseits. Zeichen konnten jedoch auch scheitern, so wenn sie von Akteur*innen nicht gelesen werden können. Zeichen standen daher nicht automatisch nur für „etwas“ und verwiesen auf „etwas“, sondern entfalteten nur in einer lebendigen Kommunikation (Praxis) ihre Wirkung. [9]

Es ging dabei nicht nur um die nachliegendste Barkeit eines Objektes, sondern um die Auswahl einer Barkeit unter vielen (dazu Seite 42): Ein Gewehr kann zum Schießen benützt werden (nacheliegenste Schießbarkeit), aber auch als Hiebwaffe – oder im Notfall als temporärer Hilfsgehstock. Nicht immer verwendeten daher Akteur*innen Artefakte für die eingeschriebenen Zwecke. Das macht das Heft deutlich; gleiches gilt auch für Symbole, die unterschiedliche (Deut-) Barkeiten besaßen.

Nicht an das spezielle Themenheft gebunden, aber für die gesamte Zeitschrift lobenswert und die Usability der Lesenden und Forschenden erhöhend sind im Übrigen durchgehend die Abstracts ebenso wie die bibliographischen Daten auf jeder Anfangsseite der jeweiligen Artikel im Überblick; dies erspart Zitierenden eine langwierige Suche nach den Erscheinungsdaten, versammelt sie vielmehr an einer Stelle. Insgesamt hat das hier besprochene Heft der „Zeitschrift für Semiotik“ mit der Affordanz und der Multimodalität (Medien aus Kombinationen von Zeichenmodalitäten) zwei wichtige Bereiche angesprochen, die als Konzepte und zur Neustellung von Fragen der Abstrahierung auch für die Adelsforschung von Belang sind. Denn wie diese – quasi intersektional – mit den Dingen und dem Materiellen verknüpft sein können, dafür bietet die Zeitschriftenausgabe gute Ansätze.

Dieser Aufsatz stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., M.A., B.A., und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form.

Annotationen:
  • [1] = Franz von Löher: Die Ritterwelt im Mittelalter, in Wiener Zeitung (Wien), Ausgabe Nr. 12 vom 15. Jänner 1889, Seite 3-4.
  • [2] = Georg Albert / Jörg Bücker / Mark Dang-Anh / Stefan Meier / Daniel Rellstab (hg.): Semiotische Medientheorien, Themenheft des Periodikums „Zeitschrift für Semiotik“, Band 41, kombiniertes Heft 1/2 in einer Ausgabe mit Datum 2019, erschienen im Stauffenburg-Verlag in Tübingen jedoch erst im Jänner 2021 mit 141 Seiten, kartoniert, erhältlich im Buchhandel zum Preis von 65,00 Euro unter der ISBN 978-3-95809-672-1, Format: 150 x 240 mm.
  • [3] = Prototypisch für die verkürzte Sichtweise, daß Akteur*innen wie ein „homo oeconomicus“ stets voll informiert entscheiden und handeln würden, siehe a) Stephan Porombka: Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert, Berlin: Bostelmann & Siebenhaar 2001, 208 Seiten, sowie b) Anett Kollmann: Mit fremden Federn. Eine kleine Geschichte der Hochstapelei, Hamburg: Hoffmann & Campe 2018, 252 Seiten.
  • [4] = Nomen Nescio: Er kann nicht reiten, in: Neuigkeits-Welt-Blatt (Wien), Ausgabe Nr. 32 vom 9. Februar 1888, Seite 29.
  • [5] = Dazu siehe exemplarisch Horst Hucke: Der erfolglose Kampf gegen die Eitelkeit. Die Kleiderordnung von 1772 des Landgrafen Friedrich II. (1760-1785), in: Hauptvorstand des Werratalvereins (Hg.): Das Werraland, Band 45, Eschwege 1993, Heft Nr. 3 (Septemberausgabe), Seite 63-66; Anne-Kathrin Reich: Kleidung als Spiegelbild sozialer Differenzierung. Städtische Kleiderordnungen vom 14. bis zum 17. Jahrhundert am Beispiel der Altstadt Hannover, Hannover: Hahn 2005, 204 Seiten [Band 125 der Reihe „Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsen“; zugleich Dissertation an der Universität Hannover 2004).
  • [6] = Dazu siehe Mario Döberl / Alejandro López Álvarez (Hg.): Tragsessel in europäischen Herrschaftszentren vom Spätmittelalter bis Anfang des 18. Jahrhunderts, Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2020, 430 Seiten.
  • [7] = Nomen Nescio. Die ersten Tragsessel in Wien, in: Erneuerte vaterländische Blätter für den österreichsciehn Kaiserstaat (Wien), Ausgabe Nr. 21 vom 13. März 1816, Seite 118.
  • [8] = Sport im Bild (Berlin / Wien), Beilage 7 von 1909, Seite 63 (Immobilienanzeigen).
  • [9] =Insofern sind Lexika zur Zeichenerläuterung und -decodierung wichtig, sie enthalten vergangene und nicht mehr aktuelle Zeichendecodierungen, bedeutend für die historische Forschung. Dazu siehe beispielhaft a) Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst, Ditzingen: Reclam 7. Auflage 2019, 487 Seiten, b) Günter Butzer (Hg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart / Weimar: Metzler 2. Auflage 2012, 505 Seiten, c) Udo Becker: Lexikon der Symbole, Freiburg im Breisgau: Herder 7. Auflage 2007, 352 Seite.


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