Institut Deutsche Adelsforschung
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Rheinischer Adel in napoleonischer Ära

Ständische Risiken und Chancen in Quellen und Annotationen 1794-1815

Flucht und Vertreibung haben oft traumatische Folgen in der Geschichte von Adeligen gehabt, nicht nur für einzelne Individuen und daher intrapersonal, sondern auch interpersonal für ganze Bevölkerungsgruppen, die im kollektiven Gedächtnis und in der Erinnerungsarbeit der Überlebenden einen adäquaten und oft schmerzlichen Bewältigungs- und Copingprozeß starteten und pflegten. Auch die Zerstörung und meist unfreiwillige Eliminierung von Aktanten-Netzwerken, Image-Umbildungen (Freundbilder wie „der Junker“ wurden von neuen Sichtweisen in Feindbilder verändert) sowie die Auflösung der Einheit von Heimatumgebung und Lebensraum konnten dabei in der Vergangenheit des Adels im deutschsprachigen Raum zu starken Belastungen auch einer Gesellschaft führen, [1] nicht nur während eines Ereignisses der Flucht oder Vertreibung, sondern auch noch in den Jahren, Jahrzehnten und Generationen danach. Dies war immer wieder, wenn auch nicht mit ausschließlichem Nobilitätsbezug, Thema der Gedenkkultur geworden, [2] so anläßlich der Eröffnung des Dokumentationszentrums „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin im Frühsommer 2021. [3 ]Hierbei spielten immer wieder auch Vorgänge des „Ankommens, Aufnehmens und Abweisens“ eine Rolle. [4]

Vertreibung und Flucht konnten sich dabei in kollektiven Suiziden ebenso wie in Ermordnungen niederschlagen, aber bisweilen – bei den Überlebenden – auch zu einer gelungenen Anpassung an neue Umstände und Bewertungen transformiert werden. Im historischen Adel läßt sich dies – die Frage von „Obenbleiben“ und „Niedergang“ [5] – eindringlich an den Fluchtberichten ersehen, die nach dem zweiten Weltkrieg, ausgehend von Angehörigen der Erinnerungsgemeinschaft des historischen Adels, erschienen sind, aber auch an der langen Liste der Selbstmorde aus dieser Gruppenbildung am Kriegsende. [6]

Vergessen wird bei diesem Gedenken und bei der Beschäftigung mit dem Thema jedoch vielfach, daß es bereits eine Blaupause gegeben hat, die die Vorgänge am Ende des zweiten Weltkrieges bereits in ganz ähnlichen Verfahren, Wirkungen und Folgen vorwegnahm. So suchten Funktionäre der neuen Herrschaft am Ende des zweiten Weltkriegs Gutsbesitzer auf dem ostelbischen Lande, die als „Junker“ in Lager verbracht wurden, gleichgültig, ob sie persönlich den Nationalsozialismus gefördert hatten oder nicht. [7]

Ganz ähnlich liest sich ein kleine Meldung aus Frankfurt: „Einige Offiziere begehrten in die Stadt zu kommen, um zu visiti[e]ren, ob keine Aristokraten darinn [sic!] befindlich wären; Im ‚römischen Kaiser‘ fande [sic!] sich ein Graf, welcher gleich als Arrestant weggeführt wurde. Der Magistrat schickte denen auf der Glacis gelagerten Truppen, Fleisch, Holz und andere Lebensmittel. Inzwischen langte von der andern Seite ein Teil Cavallerie und Infanterie unter Befehl eines General Neuwinger an, welcher letzterer begehrte eingelaßen zu werden, weilen er mit Briefen vom General Cüstine [8] an den Magistrat versehen wäre, welche im versammleten [sic!] Rath gehörte. Es wurde also beschlossen, die Truppen hereinzulassen, welches Abends gegen 6 Uhr geschahe. Die mehresten wurden in Wirthshäuser einlogi[e]rt. Abends gegen 10 Uhr wurde vorbemerktes Schreiben verlesen, wodurch der Magistrat angewiesen wurde, wegen in der Stadt geduldeten Aristokraten, in ganz kurzer Frist 2 Millionen Gulden zu bezahlen. Der Magistrat schickte gleich anderten [sic!] Tags eine Deputation nach Mainz an den General Cüstine, welche eine halbe Million Nachlaß erhielte [sic!]. Der französische General ließe ein Plakat drucken, worin derselbe erklärt, daß die Contribution blos[s] allein von Churfürstl.[ich] Gräflich und Adelichen Stifteren [sic!] und Güteren [sic!] in hiesigen, Gebiet abgetragen werden sollte.“ [9]

Diese Meldung einer förmlichen „Aristokratenjagd“ [10] stammte indes nicht aus Frankfurt an der Oder und auch nicht aus dem Jahre 1945, sondern aus Frankfurt am Main und aus dem Jahre 1792. Hier, im Rhein-Main-Gebiet und in den rechts- und linksrheinischen Gebieten, die unmittelbar an Frankreich grenzten, wurde gesellschaftlich und politisch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Westelbien schon praktiziert, was später – etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts – in Ostelbien ebenso geschah.11 Wenn auch die Voraussetzungen gänzlich andere waren und eine Vergleichbarkeit beider Adelsgefährdungen möglicherweise nur in Grenzen möglich ist (dies müßte erst noch anhand einer Vergleichsstudie herausgefunden werden), so drängen sich etliche Parallelen doch auf.

Diese werden überaus deutlich bei der Lektüre eines bemerkenswerten Buches, das sich eben jenen Flucht- und Vertreibungsbereichen im Adel widmet, die Jahre 1792 bis 1815 betrifft, mithin die französische Herrschaft und die recht rasche und zeitlich komprimierte Abfolge zwischen den politischen Wechselvorgängen des Ancien Régimes, der Vormoderne, des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der Ständegesellschaft, der diese Verhältnisse eliminierenden französischen Revolution, der Besetzung der rheinischen Gebiete durch die französische Revolutionsarmee, der Aufstieg und die Wandlung Napoleons vom Revolutionsgeneral zum Kaiser und zur imperialen (neuen, französischen) Monarchie (unter neuer Dynastie), bis hin zum nationalen Reinstallationsversuch des Vormärz wieder unter deutscher und hier vor allem preußischer Führung.

In kurzer Abfolge durchlebte der Adel in Grenznähe mithin um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert prototypisch und unter dem zeitlich gerafften Brennglas, was auch anderen Adelslandschaften hätte bevorstehen können, mit weitreichenden Auswirkungen, denkt man nur an die Stein-Hardenbergischen Reformen in ganz Preußen. [12] Die unmittelbaren Reaktionen und Copingstrategien, die resiliente Adelige in diesen für sie und ihren Stand turbulenten Jahren anwendeten, [13] sind Gegenstand des zu besprechenden Buches, das von Gudrun Gersmann und Hans-Werner Langbrandter als Quellenlesebuch herausgegeben wurde. [14] Es speist sich aus zweierlei Besonderheiten. Erstens verwendet es neben offiziösen Verlautbarungen vor allem Egodokumente und Selbstzeugnisse. Damit zusammen hängt dann auch die Herkunft dieser im Buch in transkribierter Form wiedergegebenen Dokumente und Dokumentauszüge. Zwar existieren, auch mit Bezug zur französischen Revolution, durchaus, auch im Bereich adeliger Verfassender, schon gedruckte Tagebücher, Briefe et cetera, aber in dem in Rede stehenden Band  werden vorwiegend Dokumente unveröffentlichter Art aus den rheinischen Adelsarchiven präsentiert. Mit Adelsvertreibungen und Aristoziden [15] gehen indes immer auch Dokumentenverluste einher; der besprochene Band nennt hier exemplarisch für die vielfältigen Zerstörungen seinerzeit die Plünderung von Schloss Haag (Seite 41), auch die Hinwegführung von Kulturgütern aus Adelssitzen nach Frankreich durch Staatsbeauftrage (Seite 64-65). [16] Umso begrüßenswerter ist es, daß viele materielle Aktanten in Form von Dokumenten, auch wenn einiges in den Revolutionswirren tatsächlich zerstört wurde, überliefert werden konnten.

Thematisiert werden daher viele private Einblicke, so die Trennung von Familien durch und auf der Flucht vor den französischen Revolutionstruppen und Verfolgungsdetachements (Seite 59); hierzu paßt eine Erzählung, in dem ein Anonymus (1807) die fiktive adelige Figur N. und deren Schicksal wie folgt beschrieb: „Er war der Sohn eines Land-Edelmannes, und Lieutenant im königlich-französischen Dienste. Kurz vor der Revolution nahm er seinen Abschied. Er war mit der Tochter eines benachbarten Edelmanns verlobt, und sein Vater übertrug ihm seine Güter. Bald sollte er nun seine Julie, die er mit allem Feuer jugendlicher Zärtlichkeit liebte, ganz sein nennen; schon war die Zeit der Vermählung bestimmt; als das Gewitter der Revolution, dessen fernes Dröhnen man schon eine Zeitlang von der Hauptstadt her gehört hatte, sich nun auch mit Blitzesschnelle zu den stillen ruhigen Dörfern fortwälzte, und in die Kopfe der Landleute einschlug. – Friede den Hütten, und Krieg den Pallästen, wurde die Losung. – Das Landvolk bildete sich in Bataillone. Eine Schaar bewafneter [sic!] Bauern aus den Dörfern, welche zur Herrschaft unsres [sic!] N... gehörten, kommt zu seinem Schloße heran, und fo[r]dert seinen Vater und seine Tante, eine alte Aebtissin, die dahin geflüchtet war. Alle Fragen und Vorstellungen wurden mit Hohn und mit Excessen beantwortet. N. sieht seine Tante vor seinen Augen ermorden, und seinen alten Vater gefänglich, als des schrecklichen Verbrechens eines Aristokraten beschuldigt, wegführen. Der alte Mann starb vor Kummer und Gramm [sic!] in seinem Gefängniß. Kaum hatte sich unser N... von seinem ersten Schrecken erhohlt, als er eilt, sich nach der Familie seiner Braut zu erkundigen, und an ihrer Seite seinem zerdrückten Herzen Luft zu machen. – Aber er findet das Haus seines künftigen Schwiegervaters leer; er hatte mit seinen beiden Töchtern alles verlassen; niemand wußte welchen Weg sie genommen hatten. – So hatte dann nun der gute N. alles, alles verlohren, was ihn an das Leben kettete.

Wir glückliche Menschen können einen solchen Zustand kaum ahnen – wie wärs möglich, ihn zu beschreiben? Als N. bei der Erzählung seiner Geschichte an diese Periode kam, brach er plötzlich ab, stand heftig von seinem Stuhle auf, und zeigte mit einer convulsivischen Bewegung seiner Hand auf sein Herz. – Er kehrte zurück zu seiner schrecklich einsamen verödeten Burg. Keine Thräne feuchtete sein Auge: schwarze Gedanken flogen durch seine Seele; um sein Schicksal lag tiefe Nacht; kein Sternchen erhellte sie. – In diesem Brüten der Verzweiflung überraschten ihn einige Abgeordnete aus dem Dorfe. Sie kündigen ihm an, daß er zum Commandanten des Bataillons ernannt sey. Ohne darüber weiter nachzudenken, geht er mit ihnen, und kommt beim Bataillon an. Euer Commandant kann ich nicht sein, ruft er, nimmt ein Gewehr, und stellt sich als gemeiner Soldat in Reih und Glied. Man bricht zur Grenze auf. Sein heimlicher Wunsch, dort durch eine wohlthätige Kugel vom elendesten Leben erlöset [sic!] zu werden, beflügelt seine Schritte, verlacht die Gefahr, und bietet Hunger und Elend trotz. Man hält dies für republikanische Tapferkeit und dringt in ihn, wenigstens eine Capitains-Stelle anzunehmen. Er gibt dieser Bitte nach. – Alle seine Erkundigungen nach dem Aufenthalt und Schicksal seiner Braut waren bisher vergeblich gewesen. Er glaubte sie – wenn sie noch leben sollte – in weiter Ferne, und doch war er ihr so nahe. – Einst commandierte er an der Grenze von Braband vor einem Dorf, worin Oesterreicher standen, die Vorposten.

Mit einer Tapferkeit, deren Quelle seine Soldaten nicht verstanden, greift er den stärkern [sic!] Feind an, es entsteht ein blutiges Gefecht; er wirft die Oesterreicher [nieder], und macht sich [zum] Meister vom Dorfe. – Er nahm sein Quartier bei dem Pfarrer. – Mehrere Gründe ließen ihn vermuthen, daß außer ihm in dem Hause noch mehrere Leute wohnten als der Pfarrer und seine alte Haushälterin. – Auf seine Frage wird dieses vom Pfarrer abgeleugnet, aber mit einer Aengstlichkeit, die ihn um seiner Sicherheit willen nur noch aufmerksamer machte. Am folgenden Morgen hört er an der Thüre eines abgeleg[e]nen Zimmers ein leises Flüstern mehrerer Personen. Hie[r]durch wurde seine Vermuthung Gewis[s]heit. Er erklärt dem Pfarrer, daß er sein Haus mit bewaffneter Hand durchsuchen würde, wenn er ihm nicht offenherzig entdeckte, welche Gäste er in sein Haus aufgenommen hätte. Dieser stürzt ihm zu Füßen, und bittet um Gottes Willen ihn und eine respectable Familie nicht unglücklich zu machen, welche das Unglück aus Frankreich getrieben hatte. Mit einer eigenen süßen, herzerschütternden Ahnung eilt er zu dem Zimmer der Fremden, und – stürzt in die Arme seiner geliebten, verlohren geglaubten Julie!“ [17]
 
Derlei Wirrnisse beim Verlieren und Wiederfinden von Familienmitgliedern in Umbruchszeiten schildert auch das Quellenlesebuch (Seite 58-59), da oftmals nur Zufälle eine familiäre Zusammenführung ermöglichte. Daneben war es für deutsche Adelige wichtig, daß ihre Flucht nicht zu lange anhielt, sondern sie möglichst bald wieder zurückkehrten auf ihre Güter, um nicht als Emigrant zu gelten und damit des Landbesitzes verlustig zu gehen (Seite 57 und 61-63). [18]

Aber auch danach mußten sich Adelige im Grenzgebiet, das schließlich 1794 zu französischen Verwaltungseinheiten an Rhein und Rur (Département de la Roer, Département du Rhin, darunter Arrondissements und Kantone) umgestaltet wurde, mit den neuen Machthabenden arrangieren, als die Verfolgungen und die oben im „Römischen Kaiser“ angesprochene „Jagden auf Aristokraten“ aufgehört hatten. Dabei war die französische Zeit insofern noch von besonderer Brisanz, als es relativ rasch nacheinander wechselnde politische Verhältnisse gegeben hatte, so durch Napoleons Rückkehr nach Frankreich (März 1815 bis Juli 1815), bevor er zum zweiten Male verbannt wurde und nach Sankt Helena (Juli 1815 bis zum Tod Mai 1821) gehen mußte.

Hier zeigt das Quellenlesebuch zwei prototypische Umgangsweisen auf, die mit Fischer als die beiden dichotomen Lager der Traditionalisten und Progressisten beschrieben werden können. [19] Beide werden im Quellenlesebuch exemplarisch nachempfunden und an Quellenbelegen aufgezeigt, Johann Wilhelm v.Mirbach-Harff als Traditionalist (Seite 17-18), Josef Altgraf zu Salm-Reifferscheidt-Dyck als Progressist (Seite 18-19). Es wäre daher verfehlt, so die Herausgeberin Gersmann, würde man die knapp zwei Dekaden der napoleonischen Zeit allein als Niedergangsentwicklung betrachten, denn es gab auch Angepasste und soziale Aufsteiger (besser vielleicht ihre alte Stellung Transformierende), die im recht rasch wieder remonarchisierten Staat des Empire reüssieren konnten. Nachgewiesen wird dies im Lesebuch sehr quellennah, auch versehen mit kleinen einführenden Überschriften in Regestenform. [20]

Damit bewegen sich die Inhalte des Buches, auch wenn als kleines Manko ein Register fehlt und man daher leider nicht gezielt auf bestimmte Sachbetreffe, die bei der eigenen Forschung derzeit jeweils interessieren, zugreifen kann, nah an den Akteur*innen, an der Selbstsicht der Adeligen. Aber es werden auch Fremdsichten vermittelt und abgedruckt, so beispielsweise Verordnungen. [21] Von besonderem Interesse sind auch rechtliche Fragen, bestimmten sie doch auf eine „longe durée“ besehen, über Wohl und Wehe beziehentlich den ökonomischen Fortbestand der Adelsfamilien und über die Zukunft ihrer Latifundien.

So sah die französische neue Gesetzgebung kein Fideikommiß mehr vor (Seite 170-172), keine ungeteilte Gutsvererbung, sondern eine egalitäre statt elitäre Erbteilung, die aber in letzter Konsequenz zu einer Aufsplitterung des Grundbesitzes führte, die zuletzt den jeweiligen land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb kaum mehr lebensfähig machte. Andererseits wurden von Emigranten eingezogene Güter versteigert und so konnten andere – finanzkräftige(re) – Adelige ihren Grundbesitz bisweilen vermehren und arrondieren (Seite 167-168).

Wie stets in politisch-sozialen Umbruchsphasen gab es durchaus Gewinnende und Verlierende, auch im Adel als Gruppenbildung; diesen Umstand, der sich einer Schwarz-Weiß-Zeichnung und damit einer allzu großen Pauschalisierung verweigert, wird im Quellenlesebuch immer wieder anschaulich vorgeführt. Ergänzend werden hilfreiche Worterklärungen aus dem Altfranzösischen und der Rechtssprache gegeben, die in den Quellen vorkommen (Seite 323-325), Biographien von in den Quellentexten erwähnten Adeligen (Seite 283-302) ebenso wie die wichtigsten sonstigen Erwähnten (Seite 303-312) aus Kultur, Politik, Verwaltung und Militär annotiert.

Eine ergänzende Zeitleiste (Seite 313-322) mit den hervorragendsten politischen Ereignissen in Frankreich und in den Rheinlanden (in gesonderten Spalten jeweils) bietet fernerhin eine Hilfe bei der chronologischen Einordnung aller Schriftstücke. Diese stammen aus dem Verein der „Vereinigten Adelsarchive im Rheinland“, [22] bieten als Anregung einen großen, auch vielfach noch ungehobenen Schatz an Forschungsmöglichkeiten für künftige Arbeiten, da sie, im Gegensatz zu ostelbischen Adelsarchiven, immer noch eine reiche Überlieferung bereithalten. [23] Insofern ist der Band „Im Banne Napoleons“ ein gelungener Beitrag zu einer Adelsforschung, die erfolgreiche ebenso wie erfolglose Strategien des „Obenbleibens“ und des „Zusammenbleibens“ des Adels in Krisenzeiten zeigt und daher von besonderem Interesse für eine Adelsgeschichte jenseits etablierter ständischer Strukturen ist. [24] Berührt werden daneben mit der französischen Sprachpolitik aber auch Fragen der grundsätzlichen Adelserzeugung, Grundfragen der Adelsexistenz und ihrer performativen Herstellung durch Interaktion und Alltagspraxis. Dies macht sich unter anderem bemerkbar an den verweigerten Anredeformen und der Tilgung von Adelstiteln in illokutionären Sprech- wie Schriftakten, beispielhaft in der Anrede und auch Selbstbezeichnung als „Citoyen“ und „Bürger“ anstatt als „Graf“ (Seite 35-40).

Da die erwähnten Quellen in dem Bande „Im Banne Napoleons“ lediglich präsentiert werden, nicht aber analysiert, bietet sich hier noch ein reiches Betätigungsfeld für die Adelsforschung an. [25] Als Editionswerk mit überaus plastischen Beispielen aus dem Alltag des rheinischen Adels in den Umbruchszeiten der französischen Revolution – und ihrer teils bleibenden und weitreichenden Folgen – ist der Band daher sehr zu empfehlen, bietet alltags- wie mentalitätsgeschichtliche Einblicke zum Leben der Nobilität und der Fähigkeit zur Resilienz und zu elitenerhaltenden Anpassungsleistungen sowie zahlreiche Anregungen und Anschlußmöglichkeiten für eigene sozial- wie geisteswissenschaftliche Fragestellungen zur Seigneurie ebenso wie zur Gentilhommerie; vor allem im Sinne der historischen Soziologie. [26]

Dieser Aufsatz stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., M.A., B.A., und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form.

Annotationen:
  • [1] = Siehe dazu auch Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts (herausgegeben in Verbindung mit Kristina Kaiserová und Krzysztof Ruchniewicz unter der Redaktion von Dmytro Myeshkov), Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2010, 801 Seiten.
  • [2] = Dazu fernerhin vertiefend Stephan Scholz / Maren Röger / Bill Niven (Hg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 452 Seiten.
  • [3] = Nomen Nescio: Ein neues Zentrum zur Vertreibung, in: Berliner Morgenpost (Berlin), Spätausgabe vom 18. Juni 2021, Seite 12.
  • [4]= Oliver Dimbach / Anja Kinzler / Katinka Meyer (Hg.): Vergangene Vertrautheit. Soziale Gedächtnisse des Ankommens, Aufnehmens und Abweisens, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2018, XIV und 282 Seiten.
  • [5]= Dazu siehe Eckart Conze: Niedergang und Obenbleiben, in: Eckart Conze (Hg.): Kleines Lexikon des Adels, München 2005, Seite 187-188; Jaap Geraerts: Noble Resilience in Early Modern Europe, in: Stichting Werkgroep Adelsgeschiedenis (Hg.): Virtus. Jaarboek voor adelsgeschiedenis, Band 19, Hilversum 2012, Seite 208-212; Menning, Daniel: Redefining nobility. Germany during the nineteenth and early twentieth centuries, in: Stichting Werkgroep Adelsgeschiedenis (Hg.): Virtus. Journal of Nobility Studies, Band 23, Hilversum 2016, Seite 169-186; Holste, Karsten / Hüchtker, Dietlind / Müller, Michael G. (Hg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure, Arenen, Aushandlungsprozesse, Berlin 2009, 294 Seiten; Braun, Rudolf: Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben. Der Adel im 19. Jahrhundert, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1989, Seite 87-95; Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, Bonn 2010, Seite 1064-1079 (Kapitel „Aristokraten im gebremsten Niedergang“ betreffend den sozialen Abstieg des Adels in Europa und Indien).
  • [6] = Zu diesem von der Forschung noch nicht hinreichend aufgearbeiteten Gebiet siehe den recht umfangreichen Quellenbestand bei Jürgen von Flotow / Hans-Friedrich von Ehrenkrook: Familiennachrichten [betrifft eine Liste aus zwischen 1945 und Ende 1948 zusammengestelltenNamen von Selbsttötungen aus der Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschen Adels 1945 in der Rubrik: „Freiwillig aus dem Leben schieden“], in: Jürgen von Flotow / Hans-Friedrich von Ehrenkrook (Hg.): Flüchtlingsliste (Westerbrak) Nr. 2, Dezember 1945, Seite 13-14 --- Desgleichen in Nr. 3, April 1946, Seite 25 --- Desgleichen in Nr. 4, April 1946, Seite 8-9 --- Desgleichen Nr. 5 (Dezember 1946), Seite 8 --- Desgleichen Nr. 6, März 1947, Seite 9-10 --- Desgleichen Nr. 7, Juni 1947, Seite 8 --- Desgleichen Nr. 8 (Oktober 1947), Seite 7 --- Desgleichen Nr. 9 (Dezember 1947), Seite 10 --- Desgleichen Nr. 10 (März 1948), Seite 12 --- Desgleichen Nr. 11 (Juni 1948), Seite 10 --- Desgleichen in dem von den gleichen Herausgebenden publizierten Nachfolgeblatt der Flüchtlingslisten namens Deutschen Adelsarchiv, Nr. 12 (August 1948), Seite 8 --- Desgleichen Nr. 13 (September 1948), Seite 6 --- Desgleichen Nr. 14 (Oktober 1948), Seite 6 --- Desgleichen Nr. 15 (November 1948), Seite 6 --- Desgleichen Nr. 16 (Dezember 1948), Seite 5 [mehr nicht erschienen]. Zur Kontextualisierung siehe fernerhin vertiefend Florian Huber: Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der kleinen Leute 1945, Berlin: Berlin-Verlag 4. Auflage 2015, 302 Seiten.
  • [7] = Dazu siehe exemplarisch Andreas Weigelt: „Umschulungslager existieren nicht“. Zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 6 in Jamlitz 1945-1947, Potsdam: Eigenverlag der Brandenburgische Landeszentrale für Politische Bildung, Potsdam 2001, 184 Seiten (Band 16 der Schriftenreihe „Brandenburgische historische Hefte“).
  • [8] = Gemeint war der selbst aus elsässischem Adel stammende Adam-Philippe Comte de Custine (1740-1793), seines Zeichens französischer Général de division, zuletzt hingerichtet auf der Guillotine durch die Jakobiner in Paris. Zu ihm und seiner Frankfurter Episode siehe Arthur Chuquet / Mark Scheibe (Hg.): Expedition Custine. Rheinland-Pfalz, Hessen und die gescheiterte Freiheit 1792/93., Kelkheim: Verlag der Stiftung Historische Kommission für die Rheinlande 2019, 57 Seiten (Begleitband zur Wanderausstellung, die sowohl in der Stadtbibliothek Mainz vom 25. September 2017 bis zum 18. Oktober 2017 als auch im Darmstädter Haus der Geschichte vom 18. März 2018 bis 18. Mai 2018 zu sehen war).
  • [9] = Gülich- und Bergische wöchentliche Nachrichten (Düsseldorf), Ausgabe Nr. 44 vom 30ten October 1792, Seite 7 (titellose Meldung in der Rubrik „Politische Nachrichten“).
  • [10] = Der Begriff wurde hier entlehnt bei August von Kotzebues ausgewählten prosaischen Schriften enthaltend die Romane, Erzählungen, Anekdoten und Miszellen, Band 25, Wien: Ignaz Klang 1843, Seite 142.
  • [11] = Dazu siehe unter anderem Margarete von Schnehen: Im Strom der Zeit, Band 1 (Familienschicksale im Elb-Havelland), Friedland 2004, 240 Seiten (angelegt als „Schicksalsbuch“ mit Fluchtberichten von Angehörigen der Erinnerungsgemeinschaft des historischen brandenburgischen Adels betreffend die Familien Bismarck, Britzke, Gneisenau, Katte, Ostau, Schnehen und Schutzbar).
  • [12] = Dazu siehe auch Gerd van den Heuvel: Der Verlust sozialer Sicherheit. Umbrucherfahrungen des niedersächsischen Adels im Zeitalter der Französischen Revolution, in: Heike Düselder / Olga Weckenbrock / Siegrid Westphal (Hg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2008, Seite 383-402; Wolfgang Bockhorst: Westfälische Adelige in Paris zwischen 1789 und 1815, in: Werner Frese (Hg.): Zwischen Revolution und Reform. Der westfälische Adel um 1800, Münster 2005, Seite 85-111; Ludger Viefhues-Bailey: Kulturkampf im Bett? Sexualität, Religion und die Legitimation politischer Herrschaft im modernen Nationalstaat, in: Bernhard Heininger (Hg.): Ehe als Ernstfall der Geschlechterdifferenz. Herausforderungen für Frau und Mann in kulturellen Symbolsystemen, Berlin 2010, Seite 155-174 (enthält unter anderem die These, daß die französische Revolution ein göttliches Strafgericht über den „lasterhaften“ Adel gewesen sei).
  • [13] = Dazu auch aus anderen Regionen beispielhaft Kell, Eva: Das Fürstentum Leiningen. Umbruchserfahrungen einer Adelsherrschaft zur Zeit der Französischen Revolution, Kaiserslautern 1993, 415 Seiten.
  • [14] = Gudrun Gersmann / Hans-Werner Langbrandtner (Hg.): Im Banne Napoleons. Rheinischer Adel unter französischer Herrschaft. Ein Quellenlesebuch, im Format von 175 x 245 mm, mit 336 Seiten mit 16 Abbildungen auf Kunstdrucktafeln, erschienen in Festeinband (gebunden) im Klartext-Verlag in Essen am 30. Juli 2013, zugleich Band 4 der Schriftenreihe „Vereinigte Adelsarchive im Rheinland“, ISBN: 978-3-8375-0583-2, erhältlich im Buchhandel für 24,95 Euro.
  • [15] = So ein Begriff, der hier übernommen wurde von Ellis Archer Wasson: Aristocracy and the modern world, Basingstoke 2006, VIII und 296 Seiten. Ursprünglich dazu siehe Nathaniel Weyl: Envy and Aristocide in Underdeveloped Countries, in: Foundation for Foreign Affairs / Intercollegiate Studies Institute (Hg.): Modern Age. A quarterly review, Band 18, Chicago in Illinois 1974, Heft Nr. 1 (Winterausgabe), Seite 39-52.
  • [16] = Dazu siehe ferner Bénédicte Savoy: Kunstraub. Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen mit einem Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon, Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2011, 500 und 64 Seiten. Parallel dazu für andere Zeiten Christoph Zuschlag: Einführung in die Provenienzforschung. Wie die Herkunft von Kulturgut entschlüsselt wird, München: C. H. Beck 2022, 288 Seiten. Zu weiteren Verheerungen siehe exemplarisch Nomen Nescio: Mannheim, vom 20ten Jenner [sic!], in: Gülich- und Bergische wöchentliche Nachrichten (Düsseldorf), Ausgabe Nr. 4 vom 28. Jänner 1794, Seite 3: „Uebrigens sind wir hier immer in der nemlichen Lage. Alle mögliche Sicherheitsanstalten auf dieser Seite, und fortdaurendes [sic!] Rauben und Verwüsten jenseits des Rheins, zu Lauterecken nahmen die französische Horden 12.000 Fl.[orin] Brandschatzung, und zwangen die Bürger mit ihrem eigenen Viehe die ihnen geraubten Effecten hinwegzuführen; eben so ward Meissenheim und zu Lambsheim[,] der Landsitz des Herrn Ministers, Grafen von Oberndorf[,] gänzlich verheert und geplündert; zu Hernsheim die Kirche und das Dalbergische Schloß verbrennt, imgleichen [sic!] die fürstl.[iche] Residenz zu Dürckheim. Alle Gefässe aus den Pfälzisch und Reichsstädtischen Kirchen, und die Glocken aus den Kirchthürmen werden fortgebracht“.
  • [17] = Nomen Nescio: Erzählung, in: Crefelder Wochenblatt (Krefeld), Ausgabe Nr. 7 vom 12. Februar 1807, Seite 3
  •   18] = Dazu siehe Bonaparte: Gesetz der Republik aus den Reihen des Erhaltungs-Senats vom 6. Floreal, 10. Jahrs der Republik, abgedruckt in: Gülich- und Bergische wöchentliche Nachrichten (Düsseldorf), Ausgabe Nr. 29 vom 20. July 1802, Seite 9-12 (die dort angesprochene Emigrantenliste ist indes leider nicht mit abgedruckt worden). Mit diesem Gesetz wurden auch Personen verfolgt, die nicht ausgewandert waren; beispielhaft dafür steht folgende Anekdote: „Ein Einwohner im mittäglichen Frankreich war als ausgewandert auf die Emigrantenliste gesetzt. Die revolutionäre Untersuchungskommission begab sich in die Wohnung desselben, um das Verzeichniß über sein einzuziehendes Besitzthum zu machen. Dieses Verzeichniß ist noch vorhanden, und enthält Folgendes: ‚Wir haben gefunden ... Weiters, ein Kanapee, auf welchem wir den besagten Ausgewanderten sitzend getroffen, der mit uns dieses Protokol[l] unterzeichnet.“ Zitiert nach Bonner Zeitung (Bonn) Ausgabe Nr. 182 vom 16. October 1827, Seite 3. Hierzu Micheline Vallée (Hg.): Les émigrés de 1793. Liste générale par ordre alphabétique des émigrés de toute la République, Secqueville-en-Bessin 1991, 3 Bände [A-D, E-L, M-Z], zusammen 2100 Seiten [Réédition en facsimilé de la liste officielle de 30 000 noms publiés en 1793]. Höpel (2000) hat indes eruiert, daß, zumindest für Peußen, nur 17 % der Emigrierten adelige Namen trugen, es aber später zu einer erhöhten Wahrnehmung des Adelsanteils gekommen sei; siehe dazu Thomas Höpel: Emigranten der Französischen Revolution in Preussen 1789-1806. Eine Studie in vergleichender Perspektive, Leipzig 2000, 460 Seiten. Siehe dazu übrigens auch die adelsbezüglichen Akten a) im Österreichischen Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu Wien, Bestand Adelsakten 8-45, darin fol. 510-511: Brief des Feldmarschallleutnants Carl v.Lothringen wegen Streichung von der Emigrantenliste, 25.10.1802, b) im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 11659: Johann Freiherr von Pfürdt, Hauptmann, Streichung aus der französischen Emigrantenliste, 1810, c) im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 3350: Heinrich Andreas Freiherr v.Gail, Kammerherr, Streichung aus der französischen Emigrantenliste1802, d) im Badischen Generallandesarchiv zu Karlsruhe, Bestand 49, Französische Gesandtschaft Nr. 1305: Bemühungen des Freiherrn Friedrich Gayling v.Altheim und seiner Schwester Frau v.Esebeck um Streichung aus der Emigrantenliste, 1791-1800, e) im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 6885: Charles Comte de Saint Mauris-Chatenois, Freigabe seines beschlagnahmten Besitzes in Frankreich und Streichung aus der französischen Emigrantenliste, 1802, f) im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 11536: Die Streichung aus der französischen Emigrantenliste und die Genehmigung der französischen Regierung zum Verbleib ehemaliger französischer Untertanen in bayerischen Diensten, darin: Artilleriegeneral Jakob v.Manson aus Köln, Alexander Artillerieoffizier Alexander v.Espiard aus Köln, Artillerieoffizier Benignus v.Espiard aus Köln, Artillerieoffizier Joseph Sebastian de Charry, Artillerieoffizier Karl v.Zoller, Oberhofmarschall Ludwig Freiherr v.Gohre, Kammerherr Heinrich Andreas v.Gail, 1802-1804, g) im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 6883: Marie Amélie Josephine Franziska d‘Hautefort, geborene Gräfin von Hohenfels von Bayern, aus München, Freigabe ihrer beschlagnahmten Güter im Departement Aube, Entschädigung und Streichung aus der französischen Emigrantenliste, 1801. Parallelen zu anderen Aristozidvorgängen, bei denen ebenfalls Suchlisten erstellt wurden, ergeben sich beispielsweise zu den Pariser Crowcass-Listen vom Juli 1945. Dazu siehe Supreme Headquarters Allied Expeditionary Force (Hg.): The Central Registry of War Criminals and Security Suspects. Consolidated Wanted List (1947), Uckfield 2005 (enthält als Part 1 „Germas only“ A-L und M-Z vom März 1947, als Part 2 „Non-Germans only“ vom März 1947 sowie die Supplementary Wanted List No. 2 „Germans and Non-Germans“ vom September 1947 – Kurzform „Crowcass“ – in Form alliierter Fahndungslisten mit alphabetisch aufsteigenden Namen unter anderem von Personen der Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschen Adels, die jeweils unter ihrem Familiennamen einsortiert worden sind), 740 Seiten. Auch die Umbenennung von Dienstbezeichnungen (Seite 263) und Straßennamen (Seite 11) gehörte in besetzten Gebieten zu den interchronologisch bemerkbaren gleichgelagerten Transformationen gesellschaftlicher und politischer Liminalitätsphasen. Dazu siehe auch grundlegend Hartmut Böhme / Lutz Bergemann / Martin Dönike / Albert Schirrmeister / Georg Toepfer / Marco Walter / Julia Weitbrecht (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München: Wilhelm Fink 2011, 242 Seiten. Ferner zählt dazu auch das Phänomen der Entinnerung von prestigeschmälernden Vergangenheitsfragmenten, auf das in einem Beispiel der 2013 verfaßte Regestentext der Bearbeitenden erfreulicherweise auch dezidiert hinweist (Seite 282). Zu den Umbenennungen als einer volkspädagogisch wirken sollenden Schriftperformanz siehe überdies exemplarisch Christian Böttger / Hans-Jürgen Mende: Straßennamen von A bis Z. Lexikon der aktuellen Namen Berliner Straßen und Plätze in vier Bänden nebst einem Anhang über die Brücken und Parkanlagen in Berlin und die Umbenennungen von Straßen und Plätzen seit November 1989, Berlin: Edition Luisenstadt 1996, zusammen unter fortlaufender Seitenzählung durch alle Bände hindurch 1568 Seiten. Zur „Ars oblivionis“, der „Kunst der Entinnerung“, die unter anderem als adelige Kulturtechnik gewertet werden kann, siehe überdies Claus Heinrich Bill: Memoriale Kybernetik bei Fällen von Adelsdevianz, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 1. Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sonderburg 2017, Seite 16-17.
  • [19] = Fischer (1922) hatte zwei gesellschaftlich-politische Kräfte oder Lager ausgemacht, die in einer Gesellschaft jeweils um die öffentliche Macht ringen würden, als soziale Kluft wahrgenommen würden und unter den Begriffen von Traditionalisten und Progressisten als Konfliktlinie verstanden werden könne; siehe dazu Aloys Fischer: Psychologie der Gesellschaft, in: Gustav Kafka (Hg.): Handbuch der vergleichenden Psychologie, Band 2, München: Ernst Reinhardt 1922, Seite 380-381. Fischers ständepsychologisches Konzept ist nicht ganz so ausgereift wie das aus der beiden Politologen Martin Lipset Seymour (USA) und Stein Rokkan (Norwegen); dazu siehe Franz Urban Pappi: Cleavage, in: Dieter Nohlen / Rainer-Olaf Schultze (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, Band 1, München 3. Auflage 2005, Seite 104-106.
  • [20] = Dies ist besonders vorteilhaft dort, wo französische Texte abgedruckt wurden, die nicht ins Deutsche übersetzt wurden, beispielsweise auf den Seiten 40-41, 55, 60-61, 95, 124-129, 143, 167-168, 172-177, 182-183, 210 et cetera.
  • [21] = Einen gewissen (groben) Überblick über die verhandelten Themen verschafft indes das Inhaltsverzeichnis (Seite 5-6): Besatzungen, Adelsexile, Emigranten, Annexion des linken Rheinufers, Napoleon zu Gast beim Adel, Mitarbeit in Verwaltung und Regierung, rheinische Adelige in der französischen Armee, Finanzen, Code Civil, Kunst (Interieur, Mode, Musik, Theater, Garten, Literatur), Freiheitskriege, Karrieren in Preußen nach 1815. Als Beispiel für einen vielfältig sich äußernden xeno- ebenso wie nobilophoben Schimpfklatsch an nach Koblenz geflüchteten Emigranten aus dem französischen Adel in der Revolutionszeit siehe prototypisch Friedrich Christian Laukhard: Begebenheiten, Erfahrungen und Bemerkungen während des Feldzuges gegen Frankreich, Theil 1 (Band 3 der Gesamtreihe „Leben und Schicksale, von ihm selbst beschrieben“), Leipzig: Gerhard Fleischer der Jüngere 1796, Seite 29-46 (Kapitel „Französische Emigranten“). Zum Schimpfklatsch als Interaktionsmethode abwerteder Humanfifferenzierung siehe fernerhin Norbert Elias / John L. Scotson: The established and the outsiders. A sociological enquiry into community problems, London: Frank Cass & Compagnie 1965, XI und 199 Seiten. Weiterführend sei außerdem verwiesen auf Christian Henke: Coblentz. Realität und symbolische Wirkung eines Emigrantenzentrums, in: in: Daniel Schönpflug (Hg.): Révolutionnaires et émigrés. Transfer und Migration zwischen Frankreich und Deutschland 1789-1806, Stuttgart: Thorbecke 2002, Seite 163-181 (Band 56 der Reihe „Beihefte der Francia“).
  • [22] = Dazu siehe eine leider nur unter erheblich störenden (Coockie-) Barrieren und daher nicht bedingungslos frei zugängliche Internetseite namens „https://www.adelsarchive-rheinland.de/home.html“ mit dem Titel „Vereinigte Adelsarchive im Rheinland e.V.“ gemäß Abruf vom 4. März 2022.
  • [23] = Benützt wurden einige Dokumente auch für die Ausstellung „Eine Klasse für sich. Adel an Rhein und Ruhr“ in der Kohlenwäsche des Ruhr-Museums in Essen im Winter 2021/22. Indes sind auch für ostelbische Archive des ehemaligen Adels mittlerweile etliche Findbücher erschienen, als Beispiel sei nur genannt Jörg Brückner: Adelsarchive im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt. Übersicht über die Bestände, Magdeburg: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt 2012, 385 Seiten.
  • [24] = Anpassungsleistungen bestanden unter anderem darin, sich mit den jeweils Herrschenden zu arrangieren; beispielhaft und zugespitzt sei dazu folgende Anekdote erwähnt: „Gensd‘arme: Wo wollt Ihr hin, Citoyen? Graf: Zum Gouverneur. Gensd‘arme: Es gibt keinen Gouverneur und keinen Kaiser mehr, Citoyen? Graf: Nicht mehr? Vive la république! Adjutant kommt die Treppe herab: Wo wollen Sie hin, Herr Graf? Graf: Wir stellen also die Republik her? Adjutant: Sind Sie auch von den Verschwor[e]nen, von welchen ich so eben die Häupter verhaftet [habe]? Graf: Ich? Behüte der Himmel! Vive l‘Empereur!“ Zitiert nach Nomen Nescio: Zweygespräche, in: Morgenblatt für gebildete Stände (Tübingen), Ausgabe Nr. 302 vom 19. December 1814, Seite 1207. Zum erheblichen Anpassungs-, Flexibilitäts-, Resilienz-, Renovations- oder Re-Inventionspotential des Adels siehe auch die Ausführungen a) bei Heinz Reif: Adeligkeit. Historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adel in Deutschland seit der Wende um 1800, in: Heinz Reif: Adel, Aristokratie, Elite. Sozialgeschichte von oben, Berlin / Boston: De Gruyter 2016, Seite 326, b) bei Urte Stobbe: Adel (in) der Literatur. Semantiken des Adligen bei Eichendorff, Droste und Fontane, Hannover: Wehrhahn 2019, 496 Seiten.
  • [25] = So lassen sich die Belege der Bürgeranrede auch als Argument eines „advocatus diaboli“ wider das interaktionistische soziologische Konzept „un/doing nobility“ lesen. Hier könnte dieser Advokat anführen, dass der Adel ja nicht durch die fehlende Anrede verschwunden sei, nur weil einer der drei für die Nobilitätserzeugung maßgeblichen Akteur*innengruppenbildungen sich geweigert habe, den Adel anzuerkennen. Dem ist beizupflichten, denn allein die temporäre Beteiligung einer der Akteur*innengruppenbildungen reichte nicht aus, um die Adelserzeugung im Alltag nicht mehr zu vollziehen. Allerdings nahmen auch die ehemaligen Adeligen selbst an dieser Standesverleugnung teil, da sie sich teils selbst als Bürger bezeichneten ebenso wie die staatlichen Institutionen dies taten. Alle Gegebenheiten für die dauerhafte Adelsvertilgung in Schrift- und Sprechakten waren damit gegeben; allein scheiterte die Dauerhaftigkeit an der Temporalität der staatlichen Einrichtungen, dem sonst über weite zeitliche Strecken üblicherweise als Garant der Tradition auftretenden Akteur namens Staat. Im Falle des rheinischen Adels kehrte man daher nach Napoleons Ära schon bald wieder, nach vorläufiger Unterbindung der Erzeugung von Adel, alltagspraktisch zu der Adelserzeugung zurück. Bemerkenswert ist indes, daß Adelige sich teils „Bürger Raitz von Frentz“ nannten, womit im Schriftakt dann eine Mischung aus Adel und Nichtadel entstand, da das „v.“ weiterhin genutzt wurde (Seite 36). Insgesamt besehen entkräftet diese Argumentation jedoch nicht das Konzept „un/doing nobility“, sondern bestätigt es vielmehr. Aus soziohistorischer Sicht indes ist besonders das Zweifeln einzelner der drei Akteur*innengruppenbildungen interessant für das Phänomen der Adelserzeugung, das von den Vertretenden der bisherigen statischen Konzeption „being nobility“ bedauerlicherweise nicht beachtet wird. Allerdings erscheint, von anderer Warte her besehen, ein Überdenken des Dreiakteur*innen-Prinzips im Konzept „un/doing nobility“ opportun, da eventuell auch materielle und immaterielle Aktanten nötig waren, um Adel zu erzeugen und Adel daher nicht allein durch das Handeln von Personen erzeugt worden sein könnte. Hier werden indes erst künftige Erörterungen um die Frage, ob (und wenn ja, inwieweit) im/materielle „Faktoren“ eigentlich Aktanten mit eigener Agency oder doch nur „verstärkende Faktoren“ ohne eigene Agency waren, Aufklärung verschaffen können. Zur Theorie siehe indes Claus Heinrich Bill: Konzept des Adelsbegriffs „Un/doing Nobility“, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen Adelsgeschichte 4. Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und Modellen, Sonderburg 2018, Seite 40-41. Zur Zurückdrängung gehobener Anredeformen durch die französische Revolution siehe überdies Fritz Schütze: Sprache soziologisch gesehen, Band 2 (Sprache als Indikator für egalitäre und nicht-egalitäre Sozialbeziehungen), München: Fink 1975, Seite 612-614. Zur hier priorisierten Verwendung des Begriffs „Gruppenbildungen“ statt „Gruppen“ siehe zudem (weiterführend und gut begründet) Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, Seite 52, 60-63.
  • [26] = Dazu einführend Dieter Ruloff: Historische Sozialforschung. Einführung und Überblick, Wiesbaden: Vieweg und Teubner Verlag 1985, 225 Seiten (Band 124 der Schriftenreihe „Studienskripten zur Soziologie“); Hans-Ulrich Wehler: Geschichte als historische Sozialwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 122 Seiten (Band 650 der Schriftenreihe „Edition Suhrkamp“); Rainer Schützeichel: Historische Soziologie, Bielefeld: Transcript 2004, 139 Seiten.


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