Rheinischer Adel in napoleonischer Ära
Ständische Risiken und Chancen in Quellen und Annotationen 1794-1815
Flucht und Vertreibung haben oft traumatische Folgen in der Geschichte
von Adeligen gehabt, nicht nur für einzelne Individuen und daher
intrapersonal, sondern auch interpersonal für ganze
Bevölkerungsgruppen, die im kollektiven Gedächtnis und in der
Erinnerungsarbeit der Überlebenden einen adäquaten und oft
schmerzlichen Bewältigungs- und Copingprozeß starteten und pflegten.
Auch die Zerstörung und meist unfreiwillige Eliminierung von
Aktanten-Netzwerken, Image-Umbildungen (Freundbilder wie „der Junker“
wurden von neuen Sichtweisen in Feindbilder verändert) sowie die
Auflösung der Einheit von Heimatumgebung und Lebensraum konnten dabei
in der Vergangenheit des Adels im deutschsprachigen Raum zu starken
Belastungen auch einer Gesellschaft führen, [1] nicht nur während eines
Ereignisses der Flucht oder Vertreibung, sondern auch noch in den
Jahren, Jahrzehnten und Generationen danach. Dies war immer wieder,
wenn auch nicht mit ausschließlichem Nobilitätsbezug, Thema der
Gedenkkultur geworden, [2] so anläßlich der Eröffnung des
Dokumentationszentrums „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin im
Frühsommer 2021. [3 ]Hierbei spielten immer wieder auch Vorgänge des
„Ankommens, Aufnehmens und Abweisens“ eine Rolle. [4]
Vertreibung und Flucht konnten sich dabei in kollektiven Suiziden
ebenso wie in Ermordnungen niederschlagen, aber bisweilen – bei den
Überlebenden – auch zu einer gelungenen Anpassung an neue Umstände und
Bewertungen transformiert werden. Im historischen Adel läßt sich dies –
die Frage von „Obenbleiben“ und „Niedergang“ [5] – eindringlich an den
Fluchtberichten ersehen, die nach dem zweiten Weltkrieg, ausgehend von
Angehörigen der Erinnerungsgemeinschaft des historischen Adels,
erschienen sind, aber auch an der langen Liste der Selbstmorde aus
dieser Gruppenbildung am Kriegsende. [6]
Vergessen wird bei diesem Gedenken und bei der Beschäftigung mit dem
Thema jedoch vielfach, daß es bereits eine Blaupause gegeben hat, die
die Vorgänge am Ende des zweiten Weltkrieges bereits in ganz ähnlichen
Verfahren, Wirkungen und Folgen vorwegnahm. So suchten Funktionäre der
neuen Herrschaft am Ende des zweiten Weltkriegs Gutsbesitzer auf dem
ostelbischen Lande, die als „Junker“ in Lager verbracht wurden,
gleichgültig, ob sie persönlich den Nationalsozialismus gefördert
hatten oder nicht. [7]
Ganz ähnlich liest sich ein kleine Meldung aus Frankfurt: „Einige
Offiziere begehrten in die Stadt zu kommen, um zu visiti[e]ren, ob
keine Aristokraten darinn [sic!] befindlich wären; Im ‚römischen
Kaiser‘ fande [sic!] sich ein Graf, welcher gleich als Arrestant
weggeführt wurde. Der Magistrat schickte denen auf der Glacis
gelagerten Truppen, Fleisch, Holz und andere Lebensmittel. Inzwischen
langte von der andern Seite ein Teil Cavallerie und Infanterie unter
Befehl eines General Neuwinger an, welcher letzterer begehrte
eingelaßen zu werden, weilen er mit Briefen vom General Cüstine [8] an
den Magistrat versehen wäre, welche im versammleten [sic!] Rath
gehörte. Es wurde also beschlossen, die Truppen hereinzulassen, welches
Abends gegen 6 Uhr geschahe. Die mehresten wurden in Wirthshäuser
einlogi[e]rt. Abends gegen 10 Uhr wurde vorbemerktes Schreiben
verlesen, wodurch der Magistrat angewiesen wurde, wegen in der Stadt
geduldeten Aristokraten, in ganz kurzer Frist 2 Millionen Gulden zu
bezahlen. Der Magistrat schickte gleich anderten [sic!] Tags eine
Deputation nach Mainz an den General Cüstine, welche eine halbe Million
Nachlaß erhielte [sic!]. Der französische General ließe ein Plakat
drucken, worin derselbe erklärt, daß die Contribution blos[s] allein
von Churfürstl.[ich] Gräflich und Adelichen Stifteren [sic!] und
Güteren [sic!] in hiesigen, Gebiet abgetragen werden sollte.“ [9]
Diese Meldung einer förmlichen „Aristokratenjagd“ [10] stammte indes
nicht aus Frankfurt an der Oder und auch nicht aus dem Jahre 1945,
sondern aus Frankfurt am Main und aus dem Jahre 1792. Hier, im
Rhein-Main-Gebiet und in den rechts- und linksrheinischen Gebieten, die
unmittelbar an Frankreich grenzten, wurde gesellschaftlich und
politisch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Westelbien schon
praktiziert, was später – etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts – in
Ostelbien ebenso geschah.11 Wenn auch die Voraussetzungen gänzlich
andere waren und eine Vergleichbarkeit beider Adelsgefährdungen
möglicherweise nur in Grenzen möglich ist (dies müßte erst noch anhand
einer Vergleichsstudie herausgefunden werden), so drängen sich etliche
Parallelen doch auf.
Diese werden überaus deutlich bei der Lektüre eines bemerkenswerten
Buches, das sich eben jenen Flucht- und Vertreibungsbereichen im Adel
widmet, die Jahre 1792 bis 1815 betrifft, mithin die französische
Herrschaft und die recht rasche und zeitlich komprimierte Abfolge
zwischen den politischen Wechselvorgängen des Ancien Régimes, der
Vormoderne, des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, der
Ständegesellschaft, der diese Verhältnisse eliminierenden französischen
Revolution, der Besetzung der rheinischen Gebiete durch die
französische Revolutionsarmee, der Aufstieg und die Wandlung Napoleons
vom Revolutionsgeneral zum Kaiser und zur imperialen (neuen,
französischen) Monarchie (unter neuer Dynastie), bis hin zum nationalen
Reinstallationsversuch des Vormärz wieder unter deutscher und hier vor
allem preußischer Führung.
In kurzer Abfolge durchlebte der Adel in Grenznähe mithin um die Wende
vom 18. zum 19. Jahrhundert prototypisch und unter dem zeitlich
gerafften Brennglas, was auch anderen Adelslandschaften hätte
bevorstehen können, mit weitreichenden Auswirkungen, denkt man nur an
die Stein-Hardenbergischen Reformen in ganz Preußen. [12] Die
unmittelbaren Reaktionen und Copingstrategien, die resiliente Adelige
in diesen für sie und ihren Stand turbulenten Jahren anwendeten, [13]
sind Gegenstand des zu besprechenden Buches, das von Gudrun Gersmann
und Hans-Werner Langbrandter als Quellenlesebuch herausgegeben wurde.
[14] Es speist sich aus zweierlei Besonderheiten. Erstens verwendet es
neben offiziösen Verlautbarungen vor allem Egodokumente und
Selbstzeugnisse. Damit zusammen hängt dann auch die Herkunft dieser im
Buch in transkribierter Form wiedergegebenen Dokumente und
Dokumentauszüge. Zwar existieren, auch mit Bezug zur französischen
Revolution, durchaus, auch im Bereich adeliger Verfassender, schon
gedruckte Tagebücher, Briefe et cetera, aber in dem in Rede stehenden
Band werden vorwiegend Dokumente unveröffentlichter Art aus den
rheinischen Adelsarchiven präsentiert. Mit Adelsvertreibungen und
Aristoziden [15] gehen indes immer auch Dokumentenverluste einher; der
besprochene Band nennt hier exemplarisch für die vielfältigen
Zerstörungen seinerzeit die Plünderung von Schloss Haag (Seite 41),
auch die Hinwegführung von Kulturgütern aus Adelssitzen nach Frankreich
durch Staatsbeauftrage (Seite 64-65). [16] Umso begrüßenswerter ist es,
daß viele materielle Aktanten in Form von Dokumenten, auch wenn einiges
in den Revolutionswirren tatsächlich zerstört wurde, überliefert werden
konnten.
Thematisiert werden daher viele private Einblicke, so die Trennung von
Familien durch und auf der Flucht vor den französischen
Revolutionstruppen und Verfolgungsdetachements (Seite 59); hierzu paßt
eine Erzählung, in dem ein Anonymus (1807) die fiktive adelige Figur N.
und deren Schicksal wie folgt beschrieb: „Er war der Sohn eines
Land-Edelmannes, und Lieutenant im königlich-französischen Dienste.
Kurz vor der Revolution nahm er seinen Abschied. Er war mit der Tochter
eines benachbarten Edelmanns verlobt, und sein Vater übertrug ihm seine
Güter. Bald sollte er nun seine Julie, die er mit allem Feuer
jugendlicher Zärtlichkeit liebte, ganz sein nennen; schon war die Zeit
der Vermählung bestimmt; als das Gewitter der Revolution, dessen fernes
Dröhnen man schon eine Zeitlang von der Hauptstadt her gehört hatte,
sich nun auch mit Blitzesschnelle zu den stillen ruhigen Dörfern
fortwälzte, und in die Kopfe der Landleute einschlug. – Friede den
Hütten, und Krieg den Pallästen, wurde die Losung. – Das Landvolk
bildete sich in Bataillone. Eine Schaar bewafneter [sic!] Bauern aus
den Dörfern, welche zur Herrschaft unsres [sic!] N... gehörten, kommt
zu seinem Schloße heran, und fo[r]dert seinen Vater und seine Tante,
eine alte Aebtissin, die dahin geflüchtet war. Alle Fragen und
Vorstellungen wurden mit Hohn und mit Excessen beantwortet. N. sieht
seine Tante vor seinen Augen ermorden, und seinen alten Vater
gefänglich, als des schrecklichen Verbrechens eines Aristokraten
beschuldigt, wegführen. Der alte Mann starb vor Kummer und Gramm [sic!]
in seinem Gefängniß. Kaum hatte sich unser N... von seinem ersten
Schrecken erhohlt, als er eilt, sich nach der Familie seiner Braut zu
erkundigen, und an ihrer Seite seinem zerdrückten Herzen Luft zu
machen. – Aber er findet das Haus seines künftigen Schwiegervaters
leer; er hatte mit seinen beiden Töchtern alles verlassen; niemand
wußte welchen Weg sie genommen hatten. – So hatte dann nun der gute N.
alles, alles verlohren, was ihn an das Leben kettete.
Wir glückliche Menschen können einen solchen Zustand kaum ahnen – wie
wärs möglich, ihn zu beschreiben? Als N. bei der Erzählung seiner
Geschichte an diese Periode kam, brach er plötzlich ab, stand heftig
von seinem Stuhle auf, und zeigte mit einer convulsivischen Bewegung
seiner Hand auf sein Herz. – Er kehrte zurück zu seiner schrecklich
einsamen verödeten Burg. Keine Thräne feuchtete sein Auge: schwarze
Gedanken flogen durch seine Seele; um sein Schicksal lag tiefe Nacht;
kein Sternchen erhellte sie. – In diesem Brüten der Verzweiflung
überraschten ihn einige Abgeordnete aus dem Dorfe. Sie kündigen ihm an,
daß er zum Commandanten des Bataillons ernannt sey. Ohne darüber weiter
nachzudenken, geht er mit ihnen, und kommt beim Bataillon an. Euer
Commandant kann ich nicht sein, ruft er, nimmt ein Gewehr, und stellt
sich als gemeiner Soldat in Reih und Glied. Man bricht zur Grenze auf.
Sein heimlicher Wunsch, dort durch eine wohlthätige Kugel vom
elendesten Leben erlöset [sic!] zu werden, beflügelt seine Schritte,
verlacht die Gefahr, und bietet Hunger und Elend trotz. Man hält dies
für republikanische Tapferkeit und dringt in ihn, wenigstens eine
Capitains-Stelle anzunehmen. Er gibt dieser Bitte nach. – Alle seine
Erkundigungen nach dem Aufenthalt und Schicksal seiner Braut waren
bisher vergeblich gewesen. Er glaubte sie – wenn sie noch leben sollte
– in weiter Ferne, und doch war er ihr so nahe. – Einst commandierte er
an der Grenze von Braband vor einem Dorf, worin Oesterreicher standen,
die Vorposten.
Mit einer Tapferkeit, deren Quelle seine Soldaten nicht verstanden,
greift er den stärkern [sic!] Feind an, es entsteht ein blutiges
Gefecht; er wirft die Oesterreicher [nieder], und macht sich [zum]
Meister vom Dorfe. – Er nahm sein Quartier bei dem Pfarrer. – Mehrere
Gründe ließen ihn vermuthen, daß außer ihm in dem Hause noch mehrere
Leute wohnten als der Pfarrer und seine alte Haushälterin. – Auf seine
Frage wird dieses vom Pfarrer abgeleugnet, aber mit einer
Aengstlichkeit, die ihn um seiner Sicherheit willen nur noch
aufmerksamer machte. Am folgenden Morgen hört er an der Thüre eines
abgeleg[e]nen Zimmers ein leises Flüstern mehrerer Personen.
Hie[r]durch wurde seine Vermuthung Gewis[s]heit. Er erklärt dem
Pfarrer, daß er sein Haus mit bewaffneter Hand durchsuchen würde, wenn
er ihm nicht offenherzig entdeckte, welche Gäste er in sein Haus
aufgenommen hätte. Dieser stürzt ihm zu Füßen, und bittet um Gottes
Willen ihn und eine respectable Familie nicht unglücklich zu machen,
welche das Unglück aus Frankreich getrieben hatte. Mit einer eigenen
süßen, herzerschütternden Ahnung eilt er zu dem Zimmer der Fremden, und
– stürzt in die Arme seiner geliebten, verlohren geglaubten Julie!“ [17]
Derlei Wirrnisse beim Verlieren und Wiederfinden von
Familienmitgliedern in Umbruchszeiten schildert auch das
Quellenlesebuch (Seite 58-59), da oftmals nur Zufälle eine familiäre
Zusammenführung ermöglichte. Daneben war es für deutsche Adelige
wichtig, daß ihre Flucht nicht zu lange anhielt, sondern sie möglichst
bald wieder zurückkehrten auf ihre Güter, um nicht als Emigrant zu
gelten und damit des Landbesitzes verlustig zu gehen (Seite 57 und
61-63). [18]
Aber auch danach mußten sich Adelige im Grenzgebiet, das schließlich
1794 zu französischen Verwaltungseinheiten an Rhein und Rur
(Département de la Roer, Département du Rhin, darunter Arrondissements
und Kantone) umgestaltet wurde, mit den neuen Machthabenden
arrangieren, als die Verfolgungen und die oben im „Römischen Kaiser“
angesprochene „Jagden auf Aristokraten“ aufgehört hatten. Dabei war die
französische Zeit insofern noch von besonderer Brisanz, als es relativ
rasch nacheinander wechselnde politische Verhältnisse gegeben hatte, so
durch Napoleons Rückkehr nach Frankreich (März 1815 bis Juli 1815),
bevor er zum zweiten Male verbannt wurde und nach Sankt Helena (Juli
1815 bis zum Tod Mai 1821) gehen mußte.
Hier zeigt das Quellenlesebuch zwei prototypische Umgangsweisen auf,
die mit Fischer als die beiden dichotomen Lager der Traditionalisten
und Progressisten beschrieben werden können. [19] Beide werden im
Quellenlesebuch exemplarisch nachempfunden und an Quellenbelegen
aufgezeigt, Johann Wilhelm v.Mirbach-Harff als Traditionalist (Seite
17-18), Josef Altgraf zu Salm-Reifferscheidt-Dyck als Progressist
(Seite 18-19). Es wäre daher verfehlt, so die Herausgeberin Gersmann,
würde man die knapp zwei Dekaden der napoleonischen Zeit allein als
Niedergangsentwicklung betrachten, denn es gab auch Angepasste und
soziale Aufsteiger (besser vielleicht ihre alte Stellung
Transformierende), die im recht rasch wieder remonarchisierten Staat
des Empire reüssieren konnten. Nachgewiesen wird dies im Lesebuch sehr
quellennah, auch versehen mit kleinen einführenden Überschriften in
Regestenform. [20]
Damit bewegen sich die Inhalte des Buches, auch wenn als kleines Manko
ein Register fehlt und man daher leider nicht gezielt auf bestimmte
Sachbetreffe, die bei der eigenen Forschung derzeit jeweils
interessieren, zugreifen kann, nah an den Akteur*innen, an der
Selbstsicht der Adeligen. Aber es werden auch Fremdsichten vermittelt
und abgedruckt, so beispielsweise Verordnungen. [21] Von besonderem
Interesse sind auch rechtliche Fragen, bestimmten sie doch auf eine
„longe durée“ besehen, über Wohl und Wehe beziehentlich den
ökonomischen Fortbestand der Adelsfamilien und über die Zukunft ihrer
Latifundien.
So sah die französische neue Gesetzgebung kein Fideikommiß mehr vor
(Seite 170-172), keine ungeteilte Gutsvererbung, sondern eine egalitäre
statt elitäre Erbteilung, die aber in letzter Konsequenz zu einer
Aufsplitterung des Grundbesitzes führte, die zuletzt den jeweiligen
land- oder forstwirtschaftlichen Betrieb kaum mehr lebensfähig machte.
Andererseits wurden von Emigranten eingezogene Güter versteigert und so
konnten andere – finanzkräftige(re) – Adelige ihren Grundbesitz
bisweilen vermehren und arrondieren (Seite 167-168).
Wie stets in politisch-sozialen Umbruchsphasen gab es durchaus
Gewinnende und Verlierende, auch im Adel als Gruppenbildung; diesen
Umstand, der sich einer Schwarz-Weiß-Zeichnung und damit einer allzu
großen Pauschalisierung verweigert, wird im Quellenlesebuch immer
wieder anschaulich vorgeführt. Ergänzend werden hilfreiche
Worterklärungen aus dem Altfranzösischen und der Rechtssprache gegeben,
die in den Quellen vorkommen (Seite 323-325), Biographien von in den
Quellentexten erwähnten Adeligen (Seite 283-302) ebenso wie die
wichtigsten sonstigen Erwähnten (Seite 303-312) aus Kultur, Politik,
Verwaltung und Militär annotiert.
Eine ergänzende Zeitleiste (Seite 313-322) mit den hervorragendsten
politischen Ereignissen in Frankreich und in den Rheinlanden (in
gesonderten Spalten jeweils) bietet fernerhin eine Hilfe bei der
chronologischen Einordnung aller Schriftstücke. Diese stammen aus dem
Verein der „Vereinigten Adelsarchive im Rheinland“, [22] bieten als
Anregung einen großen, auch vielfach noch ungehobenen Schatz an
Forschungsmöglichkeiten für künftige Arbeiten, da sie, im Gegensatz zu
ostelbischen Adelsarchiven, immer noch eine reiche Überlieferung
bereithalten. [23] Insofern ist der Band „Im Banne Napoleons“ ein
gelungener Beitrag zu einer Adelsforschung, die erfolgreiche ebenso wie
erfolglose Strategien des „Obenbleibens“ und des „Zusammenbleibens“ des
Adels in Krisenzeiten zeigt und daher von besonderem Interesse für eine
Adelsgeschichte jenseits etablierter ständischer Strukturen ist. [24]
Berührt werden daneben mit der französischen Sprachpolitik aber auch
Fragen der grundsätzlichen Adelserzeugung, Grundfragen der
Adelsexistenz und ihrer performativen Herstellung durch Interaktion und
Alltagspraxis. Dies macht sich unter anderem bemerkbar an den
verweigerten Anredeformen und der Tilgung von Adelstiteln in
illokutionären Sprech- wie Schriftakten, beispielhaft in der Anrede und
auch Selbstbezeichnung als „Citoyen“ und „Bürger“ anstatt als „Graf“
(Seite 35-40).
Da die erwähnten Quellen in dem Bande „Im Banne Napoleons“ lediglich
präsentiert werden, nicht aber analysiert, bietet sich hier noch ein
reiches Betätigungsfeld für die Adelsforschung an. [25] Als
Editionswerk mit überaus plastischen Beispielen aus dem Alltag des
rheinischen Adels in den Umbruchszeiten der französischen Revolution –
und ihrer teils bleibenden und weitreichenden Folgen – ist der Band
daher sehr zu empfehlen, bietet alltags- wie mentalitätsgeschichtliche
Einblicke zum Leben der Nobilität und der Fähigkeit zur Resilienz und
zu elitenerhaltenden Anpassungsleistungen sowie zahlreiche Anregungen
und Anschlußmöglichkeiten für eigene sozial- wie
geisteswissenschaftliche Fragestellungen zur Seigneurie ebenso wie zur
Gentilhommerie; vor allem im Sinne der historischen Soziologie. [26]
Dieser Aufsatz stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A.,
M.A., B.A., und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche
Adelsforschung in gedruckter Form.
Annotationen:
- [1] = Siehe dazu auch Detlef Brandes / Holm Sundhaussen / Stefan Troebst
(Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und
ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts (herausgegeben in
Verbindung mit Kristina Kaiserová und Krzysztof Ruchniewicz unter
der Redaktion von Dmytro Myeshkov), Wien / Köln / Weimar: Böhlau
2010, 801 Seiten.
- [2] = Dazu fernerhin vertiefend Stephan Scholz / Maren Röger / Bill Niven
(Hg.): Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der
Medien und Praktiken, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 452
Seiten.
- [3] =
Nomen Nescio: Ein neues Zentrum zur Vertreibung, in: Berliner
Morgenpost (Berlin), Spätausgabe vom 18. Juni 2021, Seite 12.
- [4]=
Oliver Dimbach / Anja Kinzler / Katinka Meyer (Hg.): Vergangene
Vertrautheit. Soziale Gedächtnisse des Ankommens, Aufnehmens und
Abweisens, Wiesbaden: Springer Fachmedien 2018, XIV und 282 Seiten.
- [5]=
Dazu siehe Eckart Conze: Niedergang und Obenbleiben, in: Eckart Conze
(Hg.): Kleines Lexikon des Adels, München 2005, Seite 187-188; Jaap
Geraerts: Noble Resilience in Early Modern Europe, in: Stichting
Werkgroep Adelsgeschiedenis (Hg.): Virtus. Jaarboek voor
adelsgeschiedenis, Band 19, Hilversum 2012, Seite 208-212; Menning,
Daniel: Redefining nobility. Germany during the nineteenth and early
twentieth centuries, in: Stichting Werkgroep Adelsgeschiedenis (Hg.):
Virtus. Journal of Nobility Studies, Band 23, Hilversum 2016, Seite
169-186; Holste, Karsten / Hüchtker, Dietlind / Müller, Michael G.
(Hg.): Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des
19. Jahrhunderts. Akteure, Arenen, Aushandlungsprozesse, Berlin 2009,
294 Seiten; Braun, Rudolf: Konzeptionelle Bemerkungen zum
Obenbleiben. Der Adel im 19. Jahrhundert, in: Wehler, Hans-Ulrich
(Hg.): Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1989, Seite 87-95;
Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des
19. Jahrhunderts, Bonn 2010, Seite 1064-1079 (Kapitel „Aristokraten
im gebremsten Niedergang“ betreffend den sozialen Abstieg des Adels
in Europa und Indien).
- [6] = Zu diesem von der Forschung noch nicht
hinreichend aufgearbeiteten Gebiet siehe den recht umfangreichen
Quellenbestand bei Jürgen von Flotow / Hans-Friedrich von
Ehrenkrook: Familiennachrichten [betrifft eine Liste aus zwischen
1945 und Ende 1948 zusammengestelltenNamen von Selbsttötungen aus
der Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschen Adels 1945 in
der Rubrik: „Freiwillig aus dem Leben schieden“], in: Jürgen von
Flotow / Hans-Friedrich von Ehrenkrook (Hg.): Flüchtlingsliste
(Westerbrak) Nr. 2, Dezember 1945, Seite 13-14 --- Desgleichen in Nr.
3, April 1946, Seite 25 --- Desgleichen in Nr. 4, April 1946, Seite
8-9 --- Desgleichen Nr. 5 (Dezember 1946), Seite 8 --- Desgleichen
Nr. 6, März 1947, Seite 9-10 --- Desgleichen Nr. 7, Juni 1947, Seite
8 --- Desgleichen Nr. 8 (Oktober 1947), Seite 7 --- Desgleichen Nr. 9
(Dezember 1947), Seite 10 --- Desgleichen Nr. 10 (März 1948), Seite
12 --- Desgleichen Nr. 11 (Juni 1948), Seite 10 --- Desgleichen in
dem von den gleichen Herausgebenden publizierten Nachfolgeblatt der
Flüchtlingslisten namens Deutschen Adelsarchiv, Nr. 12 (August
1948), Seite 8 --- Desgleichen Nr. 13 (September 1948), Seite 6 ---
Desgleichen Nr. 14 (Oktober 1948), Seite 6 --- Desgleichen Nr. 15
(November 1948), Seite 6 --- Desgleichen Nr. 16 (Dezember 1948),
Seite 5 [mehr nicht erschienen]. –
Zur Kontextualisierung siehe fernerhin vertiefend Florian Huber:
Kind, versprich mir, dass du dich erschießt. Der Untergang der
kleinen Leute 1945, Berlin: Berlin-Verlag 4. Auflage 2015, 302
Seiten.
- [7] = Dazu siehe exemplarisch Andreas Weigelt: „Umschulungslager
existieren nicht“. Zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers
Nr. 6 in Jamlitz 1945-1947, Potsdam: Eigenverlag der Brandenburgische
Landeszentrale für Politische Bildung, Potsdam 2001, 184 Seiten
(Band 16 der Schriftenreihe „Brandenburgische historische Hefte“).
- [8] = Gemeint war der selbst aus elsässischem Adel stammende Adam-Philippe
Comte de Custine (1740-1793), seines Zeichens französischer Général
de division, zuletzt hingerichtet auf der Guillotine durch die
Jakobiner in Paris. Zu ihm und seiner Frankfurter Episode siehe
Arthur Chuquet / Mark Scheibe (Hg.): Expedition Custine.
Rheinland-Pfalz, Hessen und die gescheiterte Freiheit 1792/93.,
Kelkheim: Verlag der Stiftung Historische Kommission für die
Rheinlande 2019, 57 Seiten (Begleitband zur Wanderausstellung, die
sowohl in der Stadtbibliothek Mainz vom 25. September 2017 bis zum
18. Oktober 2017 als auch im Darmstädter Haus der Geschichte vom 18.
März 2018 bis 18. Mai 2018 zu sehen war).
- [9] = Gülich- und Bergische wöchentliche Nachrichten (Düsseldorf),
Ausgabe Nr. 44 vom 30ten October 1792, Seite 7 (titellose Meldung in
der Rubrik „Politische Nachrichten“).
- [10] = Der Begriff wurde hier entlehnt bei August von Kotzebues ausgewählten
prosaischen Schriften enthaltend die Romane, Erzählungen, Anekdoten
und Miszellen, Band 25, Wien: Ignaz Klang 1843, Seite 142.
- [11] = Dazu siehe unter anderem Margarete von Schnehen: Im Strom der Zeit,
Band 1 (Familienschicksale im Elb-Havelland), Friedland 2004, 240
Seiten (angelegt als „Schicksalsbuch“ mit Fluchtberichten von
Angehörigen der Erinnerungsgemeinschaft des historischen
brandenburgischen Adels betreffend die Familien Bismarck, Britzke,
Gneisenau, Katte, Ostau, Schnehen und Schutzbar).
- [12] = Dazu siehe auch Gerd van den Heuvel: Der Verlust sozialer Sicherheit.
Umbrucherfahrungen des niedersächsischen Adels im Zeitalter der
Französischen Revolution, in: Heike Düselder / Olga Weckenbrock /
Siegrid Westphal (Hg.): Adel und Umwelt. Horizonte adeliger Existenz
in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien 2008, Seite 383-402;
Wolfgang Bockhorst: Westfälische Adelige in Paris zwischen 1789 und
1815, in: Werner Frese (Hg.): Zwischen Revolution und Reform. Der
westfälische Adel um 1800, Münster 2005, Seite 85-111; Ludger
Viefhues-Bailey: Kulturkampf im Bett? Sexualität, Religion und die
Legitimation politischer Herrschaft im modernen Nationalstaat, in:
Bernhard Heininger (Hg.): Ehe als Ernstfall der
Geschlechterdifferenz. Herausforderungen für Frau und Mann in
kulturellen Symbolsystemen, Berlin 2010, Seite 155-174 (enthält
unter anderem die These, daß die französische Revolution ein
göttliches Strafgericht über den „lasterhaften“ Adel gewesen
sei).
- [13] = Dazu auch aus anderen Regionen beispielhaft Kell, Eva: Das Fürstentum
Leiningen. Umbruchserfahrungen einer Adelsherrschaft zur Zeit der
Französischen Revolution, Kaiserslautern 1993, 415 Seiten.
- [14] = Gudrun Gersmann / Hans-Werner Langbrandtner (Hg.): Im Banne
Napoleons. Rheinischer Adel unter französischer Herrschaft. Ein
Quellenlesebuch, im Format von 175 x 245 mm, mit 336 Seiten mit 16
Abbildungen auf Kunstdrucktafeln, erschienen in Festeinband
(gebunden) im Klartext-Verlag in Essen am 30. Juli 2013, zugleich
Band 4 der Schriftenreihe „Vereinigte Adelsarchive im Rheinland“,
ISBN: 978-3-8375-0583-2, erhältlich im Buchhandel für 24,95 Euro.
- [15] = So ein Begriff, der hier übernommen wurde von Ellis Archer Wasson:
Aristocracy and the modern world, Basingstoke 2006, VIII und 296
Seiten. Ursprünglich dazu siehe Nathaniel Weyl: Envy and Aristocide
in Underdeveloped Countries, in: Foundation for Foreign Affairs /
Intercollegiate Studies Institute (Hg.): Modern Age. A quarterly
review, Band 18, Chicago in Illinois 1974, Heft Nr. 1
(Winterausgabe), Seite 39-52.
- [16] = Dazu siehe ferner Bénédicte Savoy: Kunstraub. Napoleons
Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen mit einem
Katalog der Kunstwerke aus deutschen Sammlungen im Musée Napoléon,
Wien / Köln / Weimar: Böhlau 2011, 500 und 64 Seiten. –Parallel
dazu für andere Zeiten Christoph Zuschlag: Einführung in
die Provenienzforschung. Wie die Herkunft von Kulturgut entschlüsselt
wird, München: C. H. Beck 2022, 288 Seiten. Zu weiteren Verheerungen
siehe exemplarisch Nomen Nescio: Mannheim, vom 20ten Jenner [sic!], in:
Gülich- und Bergische wöchentliche Nachrichten (Düsseldorf), Ausgabe
Nr. 4 vom 28. Jänner 1794, Seite 3: „Uebrigens sind wir hier immer in
der nemlichen Lage. Alle mögliche Sicherheitsanstalten auf dieser
Seite, und fortdaurendes [sic!] Rauben und Verwüsten jenseits des
Rheins, zu Lauterecken nahmen die französische Horden 12.000 Fl.[orin]
Brandschatzung, und zwangen die Bürger mit ihrem eigenen Viehe die
ihnen geraubten Effecten hinwegzuführen; eben so ward Meissenheim und
zu Lambsheim[,] der Landsitz des Herrn Ministers, Grafen von
Oberndorf[,] gänzlich verheert und geplündert; zu Hernsheim die Kirche
und das Dalbergische Schloß verbrennt, imgleichen [sic!] die
fürstl.[iche] Residenz zu Dürckheim. Alle Gefässe aus den Pfälzisch und
Reichsstädtischen Kirchen, und die Glocken aus den Kirchthürmen werden
fortgebracht“.
-
[17] = Nomen Nescio: Erzählung, in: Crefelder Wochenblatt (Krefeld),
Ausgabe Nr. 7 vom 12. Februar 1807, Seite 3
-
18] = Dazu siehe Bonaparte: Gesetz der Republik aus den Reihen des
Erhaltungs-Senats vom 6. Floreal, 10. Jahrs der Republik, abgedruckt
in: Gülich- und Bergische wöchentliche Nachrichten (Düsseldorf),
Ausgabe Nr. 29 vom 20. July 1802, Seite 9-12 (die dort angesprochene
Emigrantenliste ist indes leider nicht
mit abgedruckt worden). Mit diesem Gesetz wurden auch Personen
verfolgt, die nicht ausgewandert waren; beispielhaft dafür steht
folgende Anekdote: „Ein Einwohner im mittäglichen Frankreich war
als ausgewandert auf die Emigrantenliste gesetzt. Die revolutionäre
Untersuchungskommission begab sich in die Wohnung desselben, um das
Verzeichniß über sein einzuziehendes Besitzthum zu machen. Dieses
Verzeichniß ist noch vorhanden, und enthält Folgendes: ‚Wir haben
gefunden ... Weiters, ein Kanapee, auf welchem wir den besagten
Ausgewanderten sitzend getroffen, der mit uns dieses Protokol[l]
unterzeichnet.“ Zitiert nach Bonner Zeitung (Bonn) Ausgabe Nr. 182
vom 16. October 1827, Seite 3. –
Hierzu Micheline
Vallée (Hg.):
Les émigrés de 1793. Liste générale par
ordre alphabétique des émigrés de toute la République,
Secqueville-en-Bessin 1991, 3 Bände [A-D,
E-L, M-Z], zusammen 2100 Seiten [Réédition
en facsimilé de la liste officielle de 30 000 noms publiés en
1793]. –
Höpel (2000) hat indes eruiert, daß, zumindest für Peußen, nur 17
% der Emigrierten adelige Namen trugen, es aber später zu einer
erhöhten Wahrnehmung des Adelsanteils gekommen sei; siehe dazu
Thomas Höpel: Emigranten der Französischen
Revolution in Preussen 1789-1806. Eine Studie in vergleichender
Perspektive, Leipzig 2000, 460 Seiten. –
Siehe dazu übrigens auch die
adelsbezüglichen Akten a) im Österreichischen Haus-, Hof- und
Staatsarchiv zu Wien, Bestand Adelsakten 8-45, darin fol. 510-511:
Brief des Feldmarschallleutnants Carl v.Lothringen wegen Streichung
von der Emigrantenliste, 25.10.1802, b) im Bayerischen
Hauptstaatsarchiv zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr.
11659: Johann Freiherr von Pfürdt, Hauptmann, Streichung aus der
französischen Emigrantenliste, 1810, c) im Bayerischen
Hauptstaatsarchiv zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 3350:
Heinrich Andreas Freiherr v.Gail, Kammerherr, Streichung aus der
französischen Emigrantenliste1802, d) im Badischen
Generallandesarchiv zu Karlsruhe, Bestand 49, Französische
Gesandtschaft Nr. 1305: Bemühungen des Freiherrn Friedrich Gayling
v.Altheim und seiner Schwester Frau v.Esebeck um Streichung aus der
Emigrantenliste, 1791-1800, e) im Bayerischen Hauptstaatsarchiv zu
München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 6885: Charles Comte de
Saint Mauris-Chatenois, Freigabe seines beschlagnahmten Besitzes in
Frankreich und Streichung aus der französischen Emigrantenliste,
1802, f) im Bayerischen Hauptstaatsarchiv
zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 11536: Die Streichung
aus der französischen Emigrantenliste und die Genehmigung der
französischen Regierung zum Verbleib ehemaliger französischer
Untertanen in bayerischen Diensten, darin: Artilleriegeneral Jakob
v.Manson aus Köln, Alexander Artillerieoffizier Alexander v.Espiard
aus Köln, Artillerieoffizier Benignus v.Espiard aus Köln,
Artillerieoffizier Joseph Sebastian de Charry, Artillerieoffizier
Karl v.Zoller, Oberhofmarschall Ludwig Freiherr v.Gohre, Kammerherr
Heinrich Andreas v.Gail, 1802-1804, g) im Bayerischen
Hauptstaatsarchiv zu München, Bestand Gesandtschaft Paris, Nr. 6883:
Marie Amélie Josephine Franziska d‘Hautefort, geborene Gräfin von
Hohenfels von Bayern, aus München, Freigabe ihrer beschlagnahmten
Güter im Departement Aube, Entschädigung und Streichung aus der
französischen Emigrantenliste, 1801. –
Parallelen zu anderen Aristozidvorgängen, bei denen ebenfalls
Suchlisten erstellt wurden, ergeben sich beispielsweise zu den
Pariser Crowcass-Listen vom Juli 1945. Dazu siehe Supreme
Headquarters Allied Expeditionary Force (Hg.): The Central Registry
of War Criminals and Security Suspects. Consolidated Wanted List
(1947), Uckfield 2005 (enthält als Part 1 „Germas only“ A-L und
M-Z vom März 1947, als Part 2 „Non-Germans only“ vom März 1947
sowie die Supplementary Wanted List No. 2 „Germans and Non-Germans“
vom September 1947 – Kurzform „Crowcass“ – in Form alliierter
Fahndungslisten mit alphabetisch aufsteigenden Namen unter anderem
von Personen der Erinnerungsgemeinschaft des historischen deutschen
Adels, die jeweils unter ihrem Familiennamen einsortiert worden
sind), 740 Seiten. –
Auch die Umbenennung von Dienstbezeichnungen (Seite 263) und
Straßennamen (Seite 11) gehörte in besetzten Gebieten zu den
interchronologisch bemerkbaren gleichgelagerten Transformationen
gesellschaftlicher und politischer Liminalitätsphasen. Dazu siehe
auch grundlegend Hartmut Böhme / Lutz Bergemann / Martin Dönike /
Albert Schirrmeister / Georg Toepfer / Marco Walter / Julia
Weitbrecht (Hg.): Transformation. Ein Konzept zur Erforschung
kulturellen Wandels, München: Wilhelm Fink 2011, 242 Seiten. –
Ferner zählt dazu auch das Phänomen der Entinnerung von
prestigeschmälernden Vergangenheitsfragmenten, auf das in einem
Beispiel der 2013 verfaßte Regestentext der Bearbeitenden
erfreulicherweise auch dezidiert hinweist (Seite 282). –
Zu den Umbenennungen als einer volkspädagogisch wirken sollenden
Schriftperformanz siehe überdies exemplarisch Christian Böttger /
Hans-Jürgen Mende: Straßennamen von A bis Z. Lexikon der aktuellen
Namen Berliner Straßen und Plätze in vier Bänden nebst einem
Anhang über die Brücken und Parkanlagen in Berlin und die
Umbenennungen von Straßen und Plätzen seit November 1989, Berlin:
Edition Luisenstadt 1996, zusammen unter fortlaufender Seitenzählung
durch alle Bände hindurch 1568 Seiten. –
Zur „Ars oblivionis“, der „Kunst der Entinnerung“, die unter
anderem als adelige Kulturtechnik gewertet werden kann, siehe
überdies Claus Heinrich Bill: Memoriale Kybernetik bei Fällen von
Adelsdevianz, in: Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas
zur deutschen Adelsgeschichte 1. Adelsgrafiken als Beitrag zur
komplexreduzierten Aufbereitung von für die Adelsforschung
dienlichen Theorien und Modellen, Sonderburg 2017, Seite 16-17.
- [19] = Fischer (1922) hatte zwei gesellschaftlich-politische Kräfte oder
Lager ausgemacht, die in einer Gesellschaft jeweils um die
öffentliche Macht ringen würden, als soziale Kluft wahrgenommen
würden und unter den Begriffen von Traditionalisten und
Progressisten als Konfliktlinie verstanden werden könne; siehe dazu
Aloys Fischer: Psychologie der Gesellschaft, in: Gustav Kafka (Hg.):
Handbuch der vergleichenden Psychologie, Band 2, München: Ernst
Reinhardt 1922, Seite 380-381. Fischers ständepsychologisches
Konzept ist nicht ganz so ausgereift wie das aus der beiden
Politologen Martin Lipset Seymour (USA) und Stein Rokkan (Norwegen);
dazu siehe Franz Urban Pappi: Cleavage, in: Dieter Nohlen /
Rainer-Olaf Schultze (Hg.): Lexikon der Politikwissenschaft.
Theorien, Methoden, Begriffe, Band 1, München 3. Auflage 2005, Seite
104-106.
- [20] = Dies ist besonders vorteilhaft dort, wo französische Texte
abgedruckt wurden, die nicht ins Deutsche übersetzt wurden,
beispielsweise auf den Seiten 40-41, 55, 60-61, 95, 124-129, 143,
167-168, 172-177, 182-183, 210 et cetera.
- [21] = Einen gewissen (groben) Überblick über die verhandelten Themen
verschafft indes das Inhaltsverzeichnis (Seite 5-6): Besatzungen,
Adelsexile, Emigranten, Annexion des linken Rheinufers, Napoleon zu
Gast beim Adel, Mitarbeit in Verwaltung und Regierung, rheinische
Adelige in der französischen Armee, Finanzen, Code Civil, Kunst
(Interieur, Mode, Musik, Theater, Garten, Literatur),
Freiheitskriege, Karrieren in Preußen nach 1815. –
Als Beispiel für einen vielfältig sich äußernden xeno- ebenso wie
nobilophoben Schimpfklatsch an nach Koblenz geflüchteten Emigranten
aus dem französischen Adel in der Revolutionszeit siehe prototypisch
Friedrich Christian Laukhard: Begebenheiten, Erfahrungen und
Bemerkungen während des Feldzuges gegen Frankreich, Theil 1 (Band 3
der Gesamtreihe „Leben und Schicksale, von ihm selbst
beschrieben“), Leipzig: Gerhard Fleischer der Jüngere 1796, Seite
29-46 (Kapitel „Französische Emigranten“). Zum Schimpfklatsch
als Interaktionsmethode abwerteder Humanfifferenzierung siehe
fernerhin Norbert Elias / John L. Scotson: The established and the
outsiders. A sociological enquiry into community problems, London:
Frank Cass & Compagnie 1965, XI und 199 Seiten. –
Weiterführend sei außerdem verwiesen auf Christian Henke: Coblentz.
Realität und symbolische Wirkung eines Emigrantenzentrums, in: in:
Daniel Schönpflug (Hg.): Révolutionnaires et émigrés. Transfer
und Migration zwischen Frankreich und Deutschland 1789-1806,
Stuttgart: Thorbecke 2002, Seite 163-181 (Band 56 der Reihe „Beihefte
der Francia“).
- [22] = Dazu siehe eine leider nur unter erheblich störenden (Coockie-) Barrieren und
daher nicht bedingungslos frei zugängliche Internetseite namens
„https://www.adelsarchive-rheinland.de/home.html“ mit dem Titel
„Vereinigte Adelsarchive im Rheinland e.V.“ gemäß Abruf vom 4.
März 2022.
- [23] = Benützt wurden einige
Dokumente auch für die Ausstellung „Eine Klasse für sich. Adel an
Rhein und Ruhr“ in der Kohlenwäsche des Ruhr-Museums in Essen im
Winter 2021/22. Indes sind auch für ostelbische Archive des
ehemaligen Adels mittlerweile etliche Findbücher erschienen, als
Beispiel sei nur genannt Jörg Brückner: Adelsarchive im
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt. Übersicht über die Bestände,
Magdeburg: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt 2012, 385 Seiten.
- [24] = Anpassungsleistungen bestanden unter anderem darin, sich mit den
jeweils Herrschenden zu arrangieren; beispielhaft und zugespitzt sei
dazu folgende Anekdote erwähnt: „Gensd‘arme: Wo wollt Ihr hin,
Citoyen? Graf: Zum Gouverneur. Gensd‘arme: Es gibt keinen
Gouverneur und keinen Kaiser mehr, Citoyen? Graf: Nicht mehr? Vive la
république! Adjutant kommt die Treppe herab: Wo wollen Sie hin,
Herr Graf? Graf: Wir stellen also die Republik her? Adjutant: Sind
Sie auch von den Verschwor[e]nen, von welchen ich so eben die Häupter
verhaftet [habe]? Graf: Ich? Behüte der Himmel! Vive l‘Empereur!“
Zitiert nach Nomen Nescio: Zweygespräche, in: Morgenblatt für
gebildete Stände (Tübingen), Ausgabe Nr. 302 vom 19. December 1814,
Seite 1207. Zum erheblichen Anpassungs-, Flexibilitäts-, Resilienz-,
Renovations- oder Re-Inventionspotential des Adels siehe auch die
Ausführungen a) bei Heinz Reif: Adeligkeit. Historische und
elitentheoretische Überlegungen zum Adel in Deutschland seit der
Wende um 1800, in: Heinz Reif: Adel, Aristokratie, Elite.
Sozialgeschichte von oben, Berlin / Boston: De Gruyter 2016, Seite
326, b) bei Urte Stobbe: Adel (in) der Literatur. Semantiken des
Adligen bei Eichendorff, Droste und Fontane, Hannover: Wehrhahn 2019,
496 Seiten.
- [25] = So lassen sich die Belege der Bürgeranrede auch als Argument eines
„advocatus diaboli“ wider das interaktionistische soziologische
Konzept „un/doing nobility“ lesen. Hier könnte dieser Advokat
anführen, dass der Adel ja nicht durch die fehlende Anrede
verschwunden sei, nur weil einer der drei für die
Nobilitätserzeugung maßgeblichen Akteur*innengruppenbildungen sich
geweigert habe, den Adel anzuerkennen. Dem ist beizupflichten, denn
allein die temporäre Beteiligung einer der
Akteur*innengruppenbildungen reichte nicht
aus, um die Adelserzeugung im Alltag nicht mehr zu vollziehen.
Allerdings nahmen auch die ehemaligen Adeligen selbst an dieser
Standesverleugnung teil, da sie sich teils selbst als Bürger
bezeichneten ebenso wie die staatlichen Institutionen dies taten.
Alle Gegebenheiten für die dauerhafte Adelsvertilgung in Schrift-
und Sprechakten waren damit gegeben; allein scheiterte die
Dauerhaftigkeit an der Temporalität der staatlichen Einrichtungen,
dem sonst über weite zeitliche Strecken üblicherweise als Garant
der Tradition auftretenden Akteur namens Staat. Im Falle des
rheinischen Adels kehrte man daher nach Napoleons Ära schon bald
wieder, nach vorläufiger Unterbindung der Erzeugung von Adel,
alltagspraktisch zu der Adelserzeugung zurück. Bemerkenswert ist
indes, daß Adelige sich teils „Bürger Raitz von Frentz“
nannten, womit im Schriftakt dann eine Mischung aus Adel und
Nichtadel entstand, da das „v.“ weiterhin genutzt wurde (Seite
36). Insgesamt besehen entkräftet diese Argumentation jedoch nicht
das Konzept „un/doing nobility“, sondern bestätigt es vielmehr.
Aus soziohistorischer Sicht indes ist besonders das Zweifeln
einzelner der drei Akteur*innengruppenbildungen interessant für das
Phänomen der Adelserzeugung, das von den Vertretenden der bisherigen
statischen Konzeption „being nobility“ bedauerlicherweise nicht
beachtet wird. –
Allerdings erscheint, von anderer Warte her besehen, ein Überdenken
des Dreiakteur*innen-Prinzips im Konzept „un/doing nobility“
opportun, da eventuell auch materielle und immaterielle Aktanten
nötig waren, um Adel zu erzeugen und Adel daher nicht
allein durch das Handeln von Personen erzeugt worden sein könnte.
Hier werden indes erst künftige Erörterungen um die Frage, ob (und
wenn ja, inwieweit)
im/materielle „Faktoren“ eigentlich Aktanten mit eigener Agency
oder doch nur „verstärkende Faktoren“ ohne eigene Agency waren,
Aufklärung verschaffen können. Zur Theorie siehe indes Claus
Heinrich Bill: Konzept des Adelsbegriffs „Un/doing Nobility“, in:
Institut Deutsche Adelsforschung (Hg.): Bildatlas zur deutschen
Adelsgeschichte 4. Adelsgrafiken als Beitrag zur komplexreduzierten
Aufbereitung von für die Adelsforschung dienlichen Theorien und
Modellen, Sonderburg 2018, Seite 40-41. –
Zur Zurückdrängung gehobener Anredeformen durch die französische
Revolution siehe überdies Fritz Schütze: Sprache soziologisch
gesehen, Band 2 (Sprache als Indikator für egalitäre und
nicht-egalitäre Sozialbeziehungen), München: Fink 1975, Seite
612-614. –
Zur hier priorisierten Verwendung des Begriffs „Gruppenbildungen“
statt „Gruppen“ siehe zudem (weiterführend und gut begründet)
Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft.
Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt am Main:
Suhrkamp 2007, Seite 52, 60-63.
- [26] = Dazu einführend Dieter Ruloff: Historische Sozialforschung.
Einführung und Überblick, Wiesbaden: Vieweg und Teubner Verlag
1985, 225 Seiten (Band 124 der Schriftenreihe „Studienskripten zur
Soziologie“); Hans-Ulrich Wehler: Geschichte als historische
Sozialwissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973, 122 Seiten
(Band 650 der Schriftenreihe „Edition Suhrkamp“); Rainer
Schützeichel: Historische Soziologie, Bielefeld: Transcript 2004,
139 Seiten.
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