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Vorteile und Nachteile alltagswissentlicher Vorstellungen vom AdelZur Verknüpfung mit Kriminalität am Beispiel V. 1908Im Jahre 1908 erschien eine kleine Meldung in einer Dortmunder Zeitung, die mit dem Titel „Ein netter Vater“ Lesende anlocken wollte; sie lautete: „In Wien erregt zurzeit eine Skandalaffäre großes Aufsehen, in deren Mittelpunkt eine junge Komtesse steht, die von ihrem eigenen Vater der Sünde in die Arme getrieben wurde. Ein Privattelegramm berichtet uns darüber: Wien, 4. Mai. Heute Nachmittag hieß es, eine Dame der Lebewelt, die bildschöne Komtesse Mizzi V[...] habe sich in den Donaukanal gestürzt und sei ertrunken. Später wurde gemeldet, sie sei abgängig, wurde aber gesehen. Sie ist die Tochter eines päpstlichen Grafen namens V[...], der sie zum Laster anhielt und seinen Lebensunterhalt aus ihrem Verdienst bestritt. Vor kurzem erst wurde der Graf wegen Kuppelei verhaftet. Er leugnete und wenn nicht sein eigenes Kassabuch und ein Tagebuch der Komtesse seine Schuld bewiesen hätten, so wäre er wieder freigelassen worden. Durch das Tagebuch des Mädchens werden zahlreiche Personen komprimittiert.“ [1] In wesentlichen Zügen ist damit der Sachverhalt des „Falles V.“ umrissen, obschon einige Details der Meldung, wie sich später herausstellen sollte, nicht dem tatsächlichen Sachverhalt entsprachen. Doch ist gerade diese kleine Meldung ein Exempel für die mediale Erzeugung einer „Skandalaffäre“ und für das „großes Aufsehen“, das nicht per se existierte, sondern performatorisch durch Sprech- und Schriftakte erst ins Leben gerufen, vielfältig und mannigfaltig – durch Wiederholung und Variation – in der Zeit von Mai 1908 bis Jänner 1909 – erzeugt worden ist. Dabei handelte es sich nicht einmal um einen ungewöhnlichen Kriminalfall, wenngleich ungewöhnlich erschien, daß der Betroffene und Angeklagte ein Graf gewesen sein soll. Der Fall, über den zeitgenössisch – namentlich anhand des Gerichtsprozesses gegen den Arbeits- und Berufslosen Marcell V. (1862-1936) – Hunderte von Zeitungsartikel erschienen waren, hat nun durch eine Fallrekonstruktion anhand der rund tausendseitigen Gerichtsakte, die in Wien erhalten blieb, eine erneute Würdigung erfahren. Zu verdanken ist dies dem österreichischen Literaturwissenschaftler Walter Schübler (*1963), der in minutiöser Rekonstruktionsarbeit den Fall chronologisch aufgerollt und dabei eben auch unveröffentlichtes Quellenmaterial herangezogen hat. Daraus resultierte schließlich 2020 das Buch „Komteß Mizzi. Eine Chronik aus dem Wien um 1900“, erschienen im Göttinger Wallsteinverlag. [2] Von besonderem Interesse war indes 1908, als der Fall aktuell verhandelt wurde, daß V. als Graf und seine Stieftochter als Komteß wahrgenommen worden sind. Schübler hat durch Wiedergabe von behördlichen Recherchen nachgewiesen, daß diese Adelseigenschaft jedoch nur vorgetäuscht war (Seite 31), [3] mithin V. und seine Tochter, wohl auf Initiative des Stiefvaters, sich den Grafentitel usurpiert hatten. Dennoch war es gerade diese Adelseigenschaft und die im öffentlichen Bewußtsein als unverträglich wahrgenommene Verknüpfung zwischen Adel und Kriminalität, die diesen Fall so „sensationell“ machte, stellt er doch in dieser Kombination eine Verletzung geltender Normen dar, war doch Adel traditionell – das heißt im Alltagswissen der Bevölkerung – als hütender und nicht als unterwandernder Faktor von rechtlicher, staatlicher und sozialer Ordnung bekannt oder zumindest so gesehen und wahrgenommen worden. Andererseits kam den Medien, hier den gedruckten Zeitungen als Massenmedien, diese Kombination zur Erzeugung von Aufmerksamkeit und Reichweite in einem knapper werdenden Markt gerade recht; ihm immerhin verdankt man auch heute noch eine Unzahl von Details zum Fall, der ausführlich in der Presse verhandelt worden ist. Schüblers Buch hat indes dieser riesenhaften Überlieferung gegenüber den Vorteil, das es eben nicht nur einige der prägnanten Zeitungsausschnitte abdruckt (Seite 202-231), sondern auch die Akteninhalte konzise zusammen faßt, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit wegen der „Gefährdung der Stittlichkeit“ verhandelten Inhalte behandelt, die Biographien der wichtigsten Beteiligten bringt (damit auch das Nachleben des Arbeitslosen und seiner Ehefrau) und die vergriffene Liste der Namen der 210 „Cavaliere“ abdruckt (Seite 124-137), die als Freiende die Dienste der „Komteß“ genannten Mizzi V. (1889-1908) in Anspruch nahmen, da der Stiefvater darüber minutiös Buch führte. In dieser Liste sind neben einigen Pseudonymen vor allem Klarnamen enthalten, mitsamt der Datumseinträge der jeweiligen Herrenbesuche, ebenso die jeweilige Höhe der Gebühren, die von den männlichen Freienden für die „Gesellschaftsleistung“ an Mizzi V. erlegt worden sind. Derlei Aufzeichnungen aus dem „inner circle“ und der Buchführung einer Prostitutierten sind historisch eher selten anzutreffende und überlieferte Dokumente [4] und daher, hier besonders auch für die Adelsforschung, von Belang. Daß sich unter den Freienden viele Adelige befanden, ist indes nicht verwunderlich. Auch wenn die Ergebnisse einer neueren Studie zu Freienden aus dem frühen 21. Jahrhundert sicher nicht eindeutig übertragbar sind, so weist doch die Tendenz dieser Ergebnisse darauf hin, daß zwar vor allem Männer aller Bildungs- und Bevölkerungsschichten Freiende waren (Jedermann-Hypothese, nach der jedermann temporär oder dauerhaft Freier werden könne), am Anteil an der Bevölkerung gemessen jedoch überdurchschnittlich junge Männer (20-40 Jahre im Lebensalter), Abiturienten und Akademiker zu den Freienden zählten. [5] Ein ganz ähnliches Bild ergibt sich auch bei der Konsultation der Herrenbesuchsliste von Mizzi V.: Es waren seinerzeit seiende oder angehende Granden der Gesellschaft, Angehörige der Eliten, sowohl Beamte, Offiziere, Hofbeamte, Industrielle und ausländische Diplomaten als auch etliche Adelige, darunter sowohl Erwachsene als auch Jugendliche, beispielsweise aristokratische Theresianisten, mithin Schüler des Wiener Theresianums als spezieller Bildungsanstalt vorwiegend des österreichischen Adels. [6] Zu diesen Herrenbesuchenden zählte beispielhaft auch Alexander Freiherr von W. (1887-1944), zunächst Theresianist und später promovierter Jurist und Fähnrich der Reserve, [7] der laut Schübler (Seite 123 und 136) insgesamt elf Mal – im Jänner und Feber eines nicht näher bestimmbaren Jahres zwischen 1905 und 1908 – Mizzi V. besucht und für diese Besuche auch Gelder zwischen 5 und 25 Gulden erlegt hatte. Von Belang sind diese Einträge für die Adelsforschung, weil Besuche bei Gesellschaftsdamen oder Prostituierten allgemein im Adel zum klandestinen Alltagsleben gehörten, damit gern einer Entinnerung unterlagen und somit aus den familiären Erinnerungsbeständen – zum Beispiel Biographien oder Biogrammen bei Einträgen in gedruckten Familiengeschichten des Adels – ausgeschlossen wurden und auch schon zeitgenössisch möglichst verschwiegen wurden (Seite 206). Somit kann die Liste mit dazu beitragen, auch Teile des bislang opaken alltagsweltlichen Lebensvollzugs von Teilen des Adels und einzelner ihrer männlichen Vertreter, zumindest teilweise, zu rekonstruieren. Sie ist zwar bereits 1909 von einer Wiener Zeitung publiziert worden, [8] aber als Quelle für Nichtösterreicher*innen wegen erhöhter Beschaffungskosten nur erschwert zugänglich. Ein weitere Bedeutung für die Adelsforschung hat das Buch indes auch wegen der zeitgenössischen Kritik am Fall V.; sie wandte sich verschiedenen Aspekten zu. Einerseits wurde das Großstadtleben kritisiert, dessen Charakter sich in der Angelegenheit um Mizzi V. beispielhaft in seinen schlechten Seiten geoffenbart habe (Seite 226), aber andererseits auch die Doppelmoral und die „Entrüstungskundgebung“en (Seite 229), die der Fall in der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung auslöste. So wurde der noch jugendlichen Mizzi V., die sich schließlich 1908 im Alter von 18 Jahren nach rund viereinhalb Jahren der Prostitution suizidierte (Seite 196-197), indem sie „ins Wasser“ ging, ein „liederlicher Lebenswandel“ vorgeworfen (Seite 44), die Herrenbesuchenden indes wurden zur Schonung ihrer Ehre gar nicht erst als Zeugen einberufen (Seite 205), ihre Beteiligung als nachfragender Part der von Mizzi V. aus finanzieller Not heraus angebotenen Dienstleistungen soweit als möglich negiert. Seitens der Arbeiterpresse schließlich wurde der Fall der gemeinsamen Hochstapelei von Vater, Mutter und Tochter V. genützt, um den Adel kritisieren zu können und dessen vorgebliche „Degeneriertheit“ anzuprangern; der Prozeß entwerfe daher „ein entsetzliches Sittenbild der ,vornehmen Gesellschaft‘“ (Seite 93). Auch satirische Zeitschriften nutzten den Fall zur Adelskritik, exemplarisch sei hier der „Kikeriki“ erwähnt, der zudem die ökonomisch-kaufmännische Geschäftstüchtigkeit zeitgenössischen Adels als Abkehr vom Adelsideal des Müßigganges verurteilte: „Epigramm. Der Adel heute schachert. Macht Geschäfte, 's is a Freud': Selbst Mädchenhandel treibt er; wie es beweist Fall V[...]!“ [9] Dabei war es einigen Kommentatoren gleichgültig, daß V. zum langfristig anerkannten Adel gar nicht gehörte [10] und daher die Beurteilung nur eine politische Instrumentalisierung darstellte. Differenzierter und treffend jedoch urteilte ein Anonymus (1908) in einer Czernowitzer Zeitung die Benützung allgemein verbreiteter Adelsvorstellungen durch die Familie V. als ein zweischneidiges Schwert, das für den Vollzug der alltäglichen Lebenswelt sowohl Vor- als auch Nachteile bot: „V[...] ist ein Kuppler, wie es in Wien viele gibt. Er hat sein Gewerbe jahrelang betrieben, wie viele seiner Kollegen. Aber er verschwindet nicht ohne Aufsehen, ohne Skandal unter dem Zuchthausgitter, wie viele seiner Kollegen. Sein Prozeß ist ein Skandal, eine Sensation allerersten Ranges. Warum? Wohl aus demselben Grunde, aus dem V[...] noch auf der Anklagebank von einzelnen Zeugen mit Achtung behandelt wird. Weil er sich ‚Graf‘ nannte. Ein Graf als Kuppler und Zuhälter – wenn auch ein falscher Graf – das ist für den Wiener, dem die Ehrfurcht vor dem Adelstitel eine heilige Ueberlieferung ist, etwas ungeheuer Interessantes. Einem Grafen läßt der Wiener alles durchgehen, und wenn ein Graf einmal Schiffbruch leidet, dann ist das eine Riesensation [sic!]. Sein Grafentitel war für V[...] ein Glück und ein Unglück zugleich. Er war für ihn lange genug, nur zu lange, ein Passepartout, ein Mäntelchen, das seine Lumpereien verdeckte; als er es aber zu arg trieb, da wurde der angemaßte Titel für ihn ein Stigma.“ [11] Schüblers Werk ist daher kein Buch über den Adel an sich, aber durchaus über die unterschiedliche Verwendung des Alltagswissens zum Adel – und damit doch wieder ein Buch zum Adel, da dieser ohne Alltagswissen nicht bestehen konnte, davon stets begleitet wurde. Das Buch selbst ist gefällig durch den Verlag gebunden worden, zwei Karten rahmen die in fast dokumentarischem Ablauf präsentierten Akten- und Zeitungsauszüge und erleichtern die Verortung vieler lokaler Nennungen der Cafés, Kaffeehäuser, Wohnungen und Hotels; ein Glossar erklärt Austriazismen der Zeit, Biogramme den Verbleib der hauptsächlich behandelten Personen (Seite 195-197) nach dem Gerichtsprozeß von 1908. Die Akte aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv, die für das Buch ausgewertet wurde, wird (wenn auch halb als Reliquie) vorgestellt (Seite 198-201). Begleitet wurde die Bucherscheinung seitens der Wienbibliothek außerdem durch eine gekonnt ausgefallene Begleitserie von zwölf nacheinander publizierten Kurzvideos mit dem Textpassagen vorlesenden Autor Schübler einer Schauspielerin, die die Rollen historischer Persönlichkeiten aus dem Fall spielte und las. [12] Daher liegt mit Buch und Serie eine sachgerechte und auch spannende Aufarbeitung aus dem Mikrokosmos einer von finanzieller Not geprägten Lebenswelt von nichtadeligen Personen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert vor. Diese nichtadelige Familie verfügte nur über geringe ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen und lebte beständig am Rande der Armut, von der Hand in den Mund, wobei der Unterhalt allein der Tochter Mizzi V. oblag. Trotzdem aber ist das Buch Schüblers auch für die Adelsforschung aus den beiden benannten Aspekten – die von der Forschung noch auszuwertende Kundenliste und die re/produzierten Adelsklischee-Inhalte – von Belang. Dieser Aufsatz stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., M.A., B.A., und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form. Annotationen:
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