Institut Deutsche Adelsforschung
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Tabakdosen aus Gold und Lack als Aktanten des Adels

Zur Fabrkation der Firma Stobwasser in Braunschweig und Berlin
 
Gold- und Lackdosen, die vor allem der Bergung von Schnupftabak dienten, mußten in der Vergangenheit des 17. bis 19. Jahrhunderts bestimmten Erfordernissen des alltäglichen Gebrauchs dienlich sein; sie mußten die Eigenschaften der Formstabilität, der Leichtigkeit, der Wasserabweisung und des Glanzes erfüllen. Da die kleinen Dosen am Leibe getragen wurden, in Innen- oder Außentaschen der Kleidung, durften sie nicht verbiegbar sein, da sie sonst keine „longue durée“ überlebt und sich in ihre Bestandteile aufgelöst hätten. Hier boten sich daher Porzellan oder Edelmetalle (wie Silber oder Gold) als Grundstoff an.

Der Trägerstoff vieler Lackdosen war jedoch Papp- oder Papiermaché, zuvor hatte es auch Dosen aus Birkenrinde gegeben. [1] Allerdings war Papiermaché wenig formstabil, mußte erst im Verbund mit Lack wasserabweisend gemacht werden, damit dass Material nicht Wasser aus der Luftfeuchtigkeit aufsog und dann nach und nach zerfiel. Mittel dazu war der Lack, der durchsichtig sein mußte, um einerseits auf der Dose aufliegende Malereien und Verzierungen sichtbar zu halten, andererseits aber auch, um ein zusätzliches Versteifungsmittel abzugeben. Die wichtigste Eigenschaft des Lacks war jedoch der Glanz und damit die Nachahmung des Edelmetallglanzes bei geringwertigen Materialien. Der Glanz ging dabei über die nützlichen und praktischen Erfordernissen hinaus, mithin diente er nicht nur den rein werkinstinktiven Aspekten, vielmehr brachte der Glanz mitsamt den die Dosen aufwertenden Malereien einen nicht zu unterschätzenden ehrinstinktiven Faktor ins Spiel. [2]

Das Erfordernis des Glanzes war vor allem für den Adel erheblich, korrespondierte dies doch mit seiner sozialen Stellung in stratifikatorischen Gesellschaften aus Ständezeiten des Ancien Régime. Diese Prinzipien werden deutlich in einer Rezension der „Denkwürdigkeiten“ von Karl August Varnhagen van Ense; [3] hierzu notierte ein Anonymus (1842): „Ein weiterer Punkt drängt sich zur Besprechung auf, wenn Varnhagen‘s Autorcharakter als der eines Diplomaten bezeichnet wird. Die Diplomaten stehen, in Deutschland wenigstens, doch auch gewissermaßen in allen andern Ländern, selbst in Frankreich, als Adelige, als Aristokraten, den Bürgerlichen gegenüber; ihr Kreis sondert sich, als das Element des Vornehmen, vom Plebejischen ängstlich und ekel [sic!] ab, und Wen sie aus den untern Regionen zu sich emporziehen, der muß ihren Ton, den Ton der höchsten Weltbildung, der Vornehmheit, der aristokratischen Ausschließlichkeit annehmen.

Die Diplomaten sind nicht nur die Vertreter eines Fürsten bei dem andern, sie sind auch zugleich gewissermaßen die Abgesandten und Repräsentanten der Aristokratie eines Volks oder Landes bei der Aristokratie des andern; sie zunächst verknüpfen die gesammte europäische Aristokratie zu einer Einheit und bilden die Mittelpunkte der vornehmsten buntesten Gesellschaft, wie sie [...] Varnhagen [...] als in Baden-Baden versammelt schildert: ‚Die Gesellschaft konnte mit allem Recht eine europäische heißen, nicht nur weil die Hauptländer Europas ihre reichsten Beiträge dazu gegeben, sondern auch weil sie selbst in der Sphäre sich bewegte, wo die vornehme Bildung in den höhern Classen über das Volksthümliche hinweg als etwas Gemeinsames erscheint.‘

Man könnte nun Varnhagen Schuld geben, er zeige, als Autor, die Eigenthümlichkeit des Diplomaten in einer weitgehenden Vorliebe für das Vornehme, in überschwänglicher Bewunderung und Schilderung aristokratischer Persönlichkeiten, Verhältnisse, Formen, in enthusiastischem Lob und allzu sparsamem Tadel, wo es der großen, vornehmen Welt gelte. Allerdings ist wol [sic!] nicht zu leugnen, daß das Vornehme Varnhagen viel gilt; er führt uns. z. B. in seinem ‚Wiener Congreß‘ und in ‚Baden-Baden‘ in die Kreise der Vornehmheit dergestalt ein, daß man sich zuerst wie geblendet und berauscht fühlt, daß man sich in eine Zauberwelt versetzt glaubt, wo Alles Glanz, Adel, Schönheit, Anmuth, Reiz, wo fast durchgehends auch Witz, Geist, tiefste und feinste Bildung ist, wo es fast nichts Unbedeutendes gibt, wo das Spiel anziehender, mächtiger Leidenschaften verschiedener Art keineswegs abgeleugnet wird, aber in die Würde und Bedeutung der ernstesten, gehaltensten Tragödie sich kleidet. Und selbst wo eine weitverbreitete Meinung und wol [sic!] auch die ins Auge fallende Erscheinung einer solchen Verklärung zu widerstreben scheint, wird oft auf eine tiefere, dem oberflächlichen Blicke nur nicht erkennbare Wurzel des Geistes oder Charakters hingewiesen, deren tiefer eindringende Erkenntniß mit der nicht ganz befriedigenden erscheinenden Gestalt aussöhnen müsse.

Es erfodert [sic!] einige Zeit, einige Gewöhnung des zuerst geblendeten Auges an diese lichterfüllten Räume, bis man in dem strahlenden Nimbus, der sich über Alles legt, etwas klarer und schärfer sieht; dann aber findet man, mit einiger Nüchternheit und Kritik, zu welcher der Verf. selbft Winke und Andeutungen an die Hand gibt, unschwer den richtigen Gesichtspunkt, das angemessene Verständniß. Zugeben kann man immerhin, daß Varnhagen von der vornehmen Welt sich besonders angezogen fühlen mochte, theils weil in der vornehmen und großen Welt, zumal in so bewegten und stürmischen Zeiten, wie die von ihm erlebten und geschilderten, wirklich viele ausgezeichnete und merkwürdige Geister, Talente und Charaktere in einem gedrängtern [sic!] Kreise sich zusammenfanden, und weil auch an sich minder bedeutende Persönlichkeiten durch die ihnen verliehene Macht, durch ihren Einfluß, das Gewicht ihres Willens, das Entscheidende ihrer Worte eine historische Bedeutung erlangen; theils weil die Formen der großen Welt etwas Bestechendes und Imposantes, den Vorzug einer wenigstens äußern Bildung, einen ästhetischen Reiz haben; theils endlich auch, sofern es einer keineswegs zu tadelnden Eitelkeit schmeicheln muß, aus niedrigern Sphären durch Verdienst in solche Regionen emporgehoben zu werden, welche meist nur der hohen Geburt sich öffnen, und auf dem Fuß einer gewissen Gleichheit mit den, wo nicht im Purpur, doch ‚im Salon‘ Geborenen, wenn man so sagen darf, zu verkehren.“ [4]

Die hier als Schriftakt wieder zur Aufführung auf einer Lesebühne gelangte Humandifferenzierung [5] wird mit vielen Worten idealiter beschrieben, folgte dabei einem Stereotyp des Adels als edelster sozialer Schicht oder Gruppe, die sich statisch durch Leistung und Bildung auszeichne und in jeder Hinsicht als Vorbild gelten könne (Konzept „being nobility“). Mehrfach wird dabei betont, wie sehr der Adel vom Nichtadel getrennt sei, das Wort „Welt“ erinnert an Simmels Sicht auf den Adel als „Insel in der Welt“, [6] der stets gleichbleibende Werte besessen habe. Die Rezension des Anonymus beteiligt sich daher an der Aufrechterhaltung, Wiedererzeugung sowie Perpetuierung des aristokratischen Airs, des Nebulösen und rational Unfaßbaren, der Atmosphäre, die den Adel umgab. Angesprochen wurden alle positiven Eigenschaften, die „den Edelsten“ zugesprochen wurden, damit einhergehend auch wurde auch der hier besonders interessierende „Glanz“ des Adels dem „Nichtglanz“ oder der ansichtlichen Stumpfheit des Visuellen gegenübergestellt. Der Begriff „Glanz“ tauchte hier indes mit einer Reihe von weiteren Begriffen auf, die sich mit dem Adel als synonym erweisen sollten, ging man nach dem Rezensenten, der viel Verständnis für die staatliche wie gesellschaftlich akzeptierte Ungleichheit besaß. [7]

Daneben aber gab es historisch auch viele direkte Verbindungen zwischen „Adel“ und „Glanz“, so exemplarisch bei Ebersberg (1837) anläßlich eines Praterausflugs, bei dem er als Nichtadeliger den Adel bewunderte: „Der Bewohner der österreichischen Residenz wallt nun am späten Nachmittage dem Prater zu, wo sich der Glanz des Adels und Reichthums in den Lustfahrten zeigt, die nur kurze Zeit mehr in zahlreichen Equipagen und mit solcher Prachtenwicklung Statt finden werden, denn bald ziehen sich die Reichsten und Unabhängigen auf ihre Güter zurück. Fast eine Stunde Weges haben sich die theuersten Wagen und Pferde aneinandergereiht – gehemmt in ihrem Laufe, nur Schritt vor Schritt sich bewegend. Welch einer Menge merkwürdiger, geschichtlich berühmter und interessanter Menschen begegnet der kundige Wanderer auf solchem Ausfluge! – wohl auch vielfältigem Stoffe zur Belehrung, zur Erhebung.“ [8]

Mit welcher Art von „Glanz“ hat man es aber beim „Glanz des Adels“ zu tun?  Georges (1910) gibt dazu zeitgenössisch Aufschluß, ihm zufolge sei „Glanz“ allgemein in zwei Bedeutungen aufgetreten, im eigentlichen und im uneigentlichen Sinne. Hier könnte man präzisierend ergänzen, daß es sich um einen realen und einen übertragenen Sinn handelte: „Glanz, I) eig.: splendor (der schimmernde, strahlende und prachtvolle Glanz von jeder Farbe). […] – nitor (der gleißende od. milde Glanz einer reinen, glatten, blanken [blank geputzten] od. fettigen Oberfläche; daher auch von dem milden G. der Sonne, im Ggstz. zu dem feurigen [fulgor] eines Kometen). [...] II) uneig.: splendor (in bezug auf die Erhabenheit, auf das Imposante, z.B. natalium [der Geburt], familiae). – fulgor (in bezug auf Größe u. Berühmtheit, die gleichs. weithin strahlt). – claritas (Berühmtheit, z.B. antiquorum regum). – nitor (der Schmuck, der verschönernde Glanz, im Äußern und in der Lebensart, in cultu victuque: in der Rede, orationis: der Rede einigen G. geben, in oratione admiscere aliquid nitoris). – flos (der blühende Zustand, der Flor, in dem etwas steht, z.B. Graeciae, vitae). – amplitudo (die Größe u. Bedeutung, Großartigkeit, z.B. rerum gestarum: u. opum). – magnificentia (die prachtvolle Zurüstung, der kostbare Aufwand, z.B. epularum, funeris, villae). – der G. des Namens, splendor et nomen: der G. seiner Würde, eius dignitas et splendor: im G. seines Ruhms stehen, recenti gloria nitere: sich in seinem G. zeigen.“ [9]

Sind hier noch die beiden Glanzarten, wie wohl beide im Lateinischen „splendor“ genannt werden,  getrennt, kommen sie in Gold- und Lackdosen auf eigentümliche Weise zusammen und gehen eine Mariage – ein Amalgam oder eine Hybridisierung – ein, denn der durch Edelmetalle oder Lack hervorgerufene visible materielle Dosenglanz, der „splendor nitor“, wurde im individuell gefertigten Kunsthandwerksstück mit dem imaginierten, invisiblen und immateriellen „Glanz des Adels“ als „splendor amplitudo“ in eins gesetzt, der letztere aus dem ersten Glanze abgeleitet.

So besehen war die edelmetallene oder lackierte Dose ein Symbol, ein Indikator, ein Anzeigeinstrument für den Glanz der Personen, die mit dieser glänzenden Dose körpernah umgingen, sie ihr eigen nannten, bei sich führten, sie benützten – und sich bei dieser Benützung durch soziale Umwelten beobachten ließen.  Die Gold-, Silber- oder Lackdose als Aktant, [10] wenn auch durchaus nie sie alleine, [11] glich somit den Mangel der Invisibilität des Glanzes einer sozialen Zuschreibung, wie sie „der Adel“ war, in materieller Weise aus, der Glanz des Lacks „färbte“ auf die Person ab, „imprägnierte“ sie atmosphärisch, veränderte die Person, die mit diesem Artefakt, diesem Objekt – besser wohl Sobjekt – hantierte, wirkte als Surrogat dessen, was personell unverfügbar war.

Allerdings gab es andererseits auch keinen zuschreibungspflichtigen Automatismus, eine mit einer Dose hantierte Person als adelig zu betrachten; dafür bedurfte es weiterer Aktanten und ganzer Netzwerke. Gleichwohl aber konnte gerade die glänzende Tabaksdose, zusammen auch mit anderen lackierten Aktanten wie Schatullen, Tabletts, Trinkbecher, Leuchter, Kutschen, Kleinmöbeln, Sänften oder Zigaretten-Etuis diesen Effekt einer Anerkennung einer Person als adelig auslösen. Da indes der Konsum von Schnupftabak, der ab etwa 1800 so preiswert wurde, daß er von Angehörigen aller „Stände“ in Europa gepflegt wurde, Allgemeingut wurde, bedurfte es oft besonders ausgearbeiteter Dosen, um noch Adeligkeit ausstrahlen zu können; derlei Dosen wurden für den Adel daher mehr und mehr zum Statussymbol, ihr Monopol in der Nutzung ehemals kostspieliger Distinktionsgüter gebrochen. Hier bedurfte es eines höheren ehrinstinktiven Aufwandes, höherer „spesa onorata“ [12] und somit weiterer Strategien, so etwa der Verwendung von kostspieligen Dosen, die mit Edelsteinen besetzt waren.

Ein anderes Beispiel distinktiver Aufrüstung vollzog vermutlich Heinrich Graf Brühl (1700-1763), der für jeden seiner Röcke je eine eigene Dose besessen haben soll. [13] Daneben existierten Prachtdosen, die als diplomatisches Geschenk fungierten, etwa beschrieben in einem Falle bei einem Anonymus (1766): „Die goldene Dose, welche jüngst dem Erbprinzen von Braunschweig, mit dem Bürgerrechte der Stadt Londen, überreichet worden, ist ein Meisterstück an schöner und sinnreicher erhabener Arbeit. Oben auf sind Se. Durchl. zu sehen, wie Sie aus Martis Tempel kommen. Großbritannien kommt ihm entgegen, und führet ihn dem Gott der Ehre zu. Die Ehre bekränzet den Prinzen mit Lorbeern, und der Ruf verkündiget dessen Lob. Hinter dem Prinzen siehet man den Tempel des Kriegsgottes, und einen Cupido, der einen Schild mit dem Braunschweigischen Wappen hält; und gegenüber zeiget sich der Tempel des Hymens, der Altar, ein Cupido, und eine Taube mit einem Oelzweige. Auf den Seiten der Dose halten zween Genü Lorbeerkränze. Endlich siehet man auf dem untern auswendigen Theile dieser Dose das Wappen der Stadt Londen künstlich ausgestochen.“ [14] Derlei kostspielige Dosen wurden unter anderem von Juwelieren angefertigt, für weniger Wohlhabende wurden Papiermachédosen, die mit Lack überzogen waren, angeboten.

Dies läßt sich ableiten aus dem 2021 im Hirmerverlag erschienenen großformatigen Bildband „Miniaturen in Vollendung. Stobwasser Lackdosen und -etuis. Sammlung Munte“. [15] Darin werden nach einer Einführung in die Lackierkunst, die aus dem vorchristlichen China stammte und in Europa erst im 17./18. Jahrhundert durch Kulturtransfer-Experimente „entdeckt“ wurde, vor allem die Geschichte und Entwicklung der seinerzeit für dieses Gebrauchs- wie auch Luxusgut führenden Manufaktur Stobwasser in Braunschweig und Berlin betrachtet. [16] Dieser Einleitung folgt der opulente eigentliche Bildkatalog, der, im Unterschied zu früheren Katalogen, diesmal Wert auf eine motivische Einteilung legt (Seite 35-377).

Für Sammelnde bedeutet dies, leicht Vergleichsobjekte auffinden zu können; aber auch ikonographisch bieten die im 18. und 19. Jahrhundert entstandenen Dosen – es waren dies vor allem Schnupftabaksdosen, die von Männern gebraucht wurden - bisweilen vollendet und aufwendig gestaltete Miniaturwelten. Auffällig ist dabei, daß ein Großteil der Dosen mit Motiven von (weiblichen) „Schönheiten“ geziert wurden (Seite 252-309). Neben diesen galanten Darstellungen, fast sämtlich in Ölmalerei ausgeführt, standen aber vielfach auch erotische Darstellungen (dies bisweilen in verdeckten Sichtblenden im Inneren der Dose, während außen ein unverfängliches Motiv zu sehen war (Seite 70-73), [17] Genreszenen, historische und christliche Motive, während typisch adelige Beschäftigungen wie Jagd oder Pferde eher selten abgebildet wurden (Seite 37). Pferde waren außerdem eher in Alltagssituationen – als Arbeitspferde – zu sehen denn als Reitpferde vornehmer Reitender (Seite 112-117).
 
Verständlich ist dies, wenn man bedenkt, daß die dem Bande zugrundeliegende Sammlung Munte fast nur Dosen aus Papiermaché enthält, also mithin keine Dosen aus Gold, Schildplatt, Silber, wie sie vom Adel bevorzugt wurden (Seite 33). Es handelte sich daher bei den erfaßten Dosen eher um Exemplare für den Gebrauch des Nichtadels, viele davon sogar waren ohne Scharnier und nur mit einem Steckdeckel versehen. Solche Dosen waren nicht geeignet dazu, Tabak in der Rocktasche aufzunehmen, da sich die Dose unbeabsichtigt leicht geöffnet hätte. Die Dosen dienten daher oft nur der Staffage als Sobjekt in einem Haushalt, zusammen mit anderen Gegenständen des Interieurs ein „bürgerliches“ Netzwerk bildend (Seite 33). In einigen Fällen wurden auch die Deckel mit den Ölmalereien aus der Dose herausgelöst, in Rahmen gesetzt und mit einem Aufhänger versehen, als Miniaturbild an die Wand gehängt (Seite 147). Dies alles zeigt auch der Katalog in rund 20 künstlich gebildeten Rubriken, die jeweils mit einer doppelseitigen Einführung in die Motivlage versehen worden sind.

Die erwähnte Verwendung der Dosen als Sammlungsgegenstände bot sich indes besonders für Adelige an, versprachen sie sich doch ferner von der Beschäftigung mit ehrinstinktiv gearbeiteten Waren und Produkten einen möglichen Distinktionsgewinn, so von Dosen mit eingelegten Goldplättchen. [18] Auch wurden seitens der Erzeugenden frühe Feuerzeuge angeboten, wie sie bereits vom mährischen Drechsler Schrimpf (1834) produziert worden waren, so der Brünner „Schnellzünd-Apparat detto aus Blech, in Form einer Dose, fein laki[e]rt mit Leuchter u.[nd] Kerze.“ [19] Auch als Investition und Wertanlage sowie als Gabenobjekt zur Festigung des Nachruhms (und daher sozialer Beziehungen) boten sich Dosen an, wie ein Anonymus (1874) im Fall des ungarischen Grafen Nadasdy ermittelt hatte:

„Eines der merkwürdigsten Testamente ist wohl jenes des in den Fünfziger-Jahren verstorbenen Kalocsaer Erzbischofs Grafen Nadasdy. Die Abwicklung der darin enthaltenen Legate brauchte bei der riesigen Anzahl derselben eine ungewöhnlich lange Zeit und manche Punkte dieses Testaments dürften auch heute nicht uninteressant sein, da sie die Denkweise des verewigten Kirchenfürsten charakterisi[e]ren. Unter dem Nachlasse des Erzbischofs befanden sich auch 1700 neue goldene Tabakdosen, welche er in majores und minores klassifizi[e]rte und testamentarisch vermachte. Die Prälaten, Domherren und sonstige Würdenträger des Kalocsaer Erzkapitels, desgleichen die Erzdechanten der Diözese erhielten Tabaksdosen aus der Klasse majores, die Dechante, Pfarrer und dergleichen aber aus der Klasse minores. Bedacht wurden Alle, welche dem Oberhirten unterstanden. Und wie kam Graf Nadasdy zu dieser Dosensammlung? Er hatte in den Jahren 1848 bis 1849 weder zu den österreichischen noch zu den ungarischen Banknoten großes Vertrauen und da er deren sehr viel besaß, kam er nach Pest, Wien und in andere große Städte und wo er in einem Goldarbeiterladen Tabakdosen fand, kaufte er diese zusammen und ließ sie nach Kalocsa bringen. Schließlich hatte er eine volle Kiste mit Dosen, in den Handlungen der Goldarbeiter und Juweliere war aber nicht eine einzige zu finden [...] Nur pures Gold fand vor seinen Augen Gnade [...], denn Graf Nadasdy kaufte weit und breit Alles auf.“ [20]

Tabakdosen, mit natürlichem goldenen Glanze vom Edelmetall her oder „künstlich“ lackiert, waren daher, wie die Beispiele zeigen konnten, in vielfältige Aristokratisierungsproduktionen eingewoben, dienten aber auch in ihrer lackierten Ausführung, als Nachahmung des Goldglanzes, dem praktischen Vollzug der Tabakeinnahme. Doch läßt sich auch, das ist dem Munte-Sammlungs-Katalog deutlich zu entnehmen, der Werkinstinkt mit dem Ehrinstinkt vereinbaren. Auch nicht dem Adel zuzurechende Bevölkerungsteile konnten so an den ehrinstinktiven Anteilen der „adeligen“ Tabakdosen teilnehmen; hierbei war der sichtbare Teil der glänzenden Dosen des Adels indes nicht durch Kunstteine ersetzt worden, sondern entwickelte im „trickle-down“-Prinzip der Distinktionsaussichten  und der  „conspicuous consumption“ [21] durchaus eigene Formen, die sich in Gestalt der Miniaturmalereien manifestiert hatten – und so eine eigene Kunsthandwerksgattung schufen. Deren Vielfalt weiß der Katalog eindrucksvoll zu präsentieren, zumal die Dosen fast alle in Originalgröße abgebildet worden sind und das Kaleidoskop möglicher Motive und myrioramatischer Ausführungsvarianten bildlich in hervorragender Qualität (auf 150 Gramm schwerem Kunstdruckpapier) auf- und vorführt.   
  
Dieser Aufsatz stammt von Dr. phil. Claus Heinrich Bill, M.A., M.A., M.A., B.A., und erscheint zugleich in der Zeitschrift für deutsche Adelsforschung in gedruckter Form.

Annotationen:
  • [1] = Die Presse (Wien), Band 12, Ausgabe Nr. 89 vom 19. April 1859, Seite 7 (Annoncenteil)
  • [2] = Zum Werkinstinkt siehe Thorstein Bundle Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1958, Seite 34. Zur Einordnung siehe Alexander Lenger / Stefan Priebe: Demonstrativer Konsum und die Theorie der feinen Leute. Geschmack, Distinktion und Habitus bei Thorstein Veblen und Pierre Bourdieu, in:Alexander Lenger / Christian Schneickert / Florian Schumacher (Hg.): Pierre Bourdieus Konzeption des Habitus. Grundlagen, Zugänge, Forschungsperspektiven, Wiesbaden 2013, Seite 91-108.
  • [3] = Es handelte sich um Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858): Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften, Band 6 (Neue Folge Band 2), Leipzig: Brockhaus 1842, IV und 613 Seiten.
  • [4] = Nomen Nescio: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften von K. A. Varnhagen von Ense, in: Blätter für literarische Unterhaltung (Leipzig), Ausgabe Nr. 333 vom 29. November 1842, Seite 1341.
  • [5] = Dazu siehe Dilek Dizdar / Stefan Hirschauer / Johannes Paulmann / Gabriele Schabacher (Hg.): Humandifferenzierung. Disziplinäre Perspektiven und empirische Sondierungen, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2021, 370 Seiten.
  • [6] = Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, München / Leipzig: Duncker & Humblot 2. Auflage 1922, Seite 550.
  • [7] = Dazu siehe Armin Nassehi: Humandifferenzierung und gesellschaftliche Differenzierung. Eine Verhältnisbestimmung, in: Stefan Hirschauer (Hg.): Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2017, Seite 57-68.
  • [8] = Ebersberg: Natur und Leben in unserem Himmelsstriche, in: Der Österreichische Zuschauer. Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft und geistiges Leben (Wien), Ausgabe Nr. 56 vom 10. Mai 1837, Seite 575-576.
  • [9] = Karl Ernst Georges: Kleines deutsch-lateinisches Handwörterbuch, Hannover / Leipzig: 7. Auflage 1910, Spalte 1127-1128.
  • [10] = Der Begriff „Aktant“ wurde entlehnt aus der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT); dazu notierte Birgit Peuker: Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), in: Christian Stegbauer / Roger Häußling (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2010, Seite 325-326: „Ihr Grundgedanke besteht darin, dass Gesellschaft nicht nur allein aus sozialen Beziehungen besteht, sondern soziale Beziehungen durch materielle, nichtsoziale Dinge (den missing masses) gestützt und gefestigt werden [...] Dabei nimmt sie Abschied vom soziologischen Gesellschaftsbegriff und ersetzt ihn zunächst durch den des Netzwerkes und später durch den des Kollektivs [...] Ein Kollektiv besteht aus der Gesamtheit an Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen sozialen und nichtsozialen Akteuren. Damit lässt sich die ANT als ein Dritter Weg zwischen soziologischem Relativismus und wissenschaftlichem Objektivismus kennzeichnen. Die Aktivitäten sozialer und nichtsozialer Akteure ermöglichen und begrenzen sich gegenseitig. Makrophänomene (stabile und abgrenzbare Akteur-Netzwerke) entstehen der ANT zufolge in kontextualisierten Mikroprozessen, die durch die Vorstrukturierung der in einer Situation vorliegenden Elemente begrenzt und ermöglicht werden. Ein Anspruch der ANT ist von Beginn an, die Mikro-Makro-Trennung zu überwinden […]. Nach Ansicht der ANT werden in einem heterogenen Netzwerk nicht nur soziale Akteure, sondern auch nichtsoziale Akteure, wie insbesondere Technik und Wissen, zum Handeln gebracht. Aus diesem Grund wird der Begriff des Akteurs durch den des Aktanten ersetzt, um darauf hinzudeuten, dass nicht nur sozialen Akteuren bzw. menschlichen Wesen Handlungsfähigkeit bzw. Aktivität (engl. agency) zugestanden wird. Der Prozess aber, der zu der Konstruktion eines Akteur-Netzwerkes führt, wird als ein Transformationsprozess beschrieben, in welchem die Aktivitäten und Eigenschaften aller einbezogenen Akteure bzw. Aktanten eingehen und dabei verändert werden. Die Aktanten sind ihrer Vernetzung nicht vorgängig, sie werden durch den Vernetzungsprozess erst hervorgebracht.“
  • [11] = Zu den Dosen als Kombinationsstück innerhalb einer Phalanx von Accessoires siehe allgemein Max von Boehn: Das Beiwerk der Mode. Spitzen, Fächer, Handschuhe, Stöcke, Schirme, Schmuck, München: Bruckmann 1928, 277 Seiten (betrifft aristokratisierende Accessoires und neben den oben genannten Objekten auch Amulette, Taschenspiegel, Parfüms, Kleidbesatz, Taschenuhren, Rosenkranz, Flohpelzchen, Brillantschliff, Dosen, Zahnstocher, Etuis, Flakons und Schiffchen).
  • [12] = Renata Ago / Konrad Honsel: Luxus, in: Friedrich Jaeger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Band VII, Stuttgart: Metzler 2008, Spalte 1046-1052.
  • [13] = Karl Friedrich Weber: Demokritos oder hinterlassene Papiere eines lachenden Philosophen, Band 4, Stuttgart: Riegersche Verlagsbuchhandlung 6. Auflage 1858, Seite 260 Dazu fernerhin Nomen Nescio: Gute alte Zeit, in Oberösterreichische Nachrichten, Unabhängiges Tagblatt österreichischer Demokraten (Linz), Jahrgang 5, Ausgabe Nr. 32 vom 8. Februar 1949, Seite 4: „Nicht nur, daß er kostbare Paläste und Gärten für sich errichten ließ, allein zu seiner Bedienung an zweihundert Bediente, Pagen und Kammerherren brauchte und eine Tafel führte, die täglich mit 30, oft sogar mit 80, ja 100 Schüsseln besetzt war, er frönte auch in seiner Kleidung einer geradezu unsinnigen Verschwendung. Seine Garderobe enthielt 500 Anzüge, 47 Pelze, 13 Muffs, 75 Degen, 102 Taschenuhren, 87 Ringe, 63 Riechfläschchen usw. Graf Brühl besaß auch 1500 Perücken [...] Er hinterließ 800 Tabakdosen aus Gold.“
  • [14] = Wienerisches Diarium (Wien) Ausgabe Nr. 7 vom 22. Januarii 1766, Seite 1-2.
  • [15] = Detlev Richter (Textautor) / Michael Munte (Herausgeber): Stobwasser Lackdosen und -Etuis. Miniaturen in Vollendung. Sammlung Munte, München 2021, 392 Seiten, erschienen im Kunstverlag Hirmer, mit 700 Abbildungen in Farbe, Format 24 x 30 cm, im leinernen Festeinband gebunden mit farbigem Schutzumschlag, Preis: 48,00 Euro, ISBN: 978-3-7774-3817-7. In Teilen schon als Bildband erschienen unter Detlev Richter: Lackdosen, München: Klinkhardt & Biermann 1988, 216 Seiten.
  • [16] = Siehe dazu auch Nomen Nescio: Das 100jährige Jubiläum der Stobwasser‘schen Fabrik in Berlin, in: Illustrierte Zeitung (Wien), Ausgabe Nr. 1052 vom 29. August 1863, Seite 159. Auch andere Niederlagen, wie in Leipzig, wurden in Kommission begründet, um auch den Absatzmarkt am Messestandort zu erschließen; siehe dazu die Annonce in der Leipziger Zeitung (Leipzig), Ausgabe Nr. 88 vom 4. May 1820, Seite 1085: „Bekanntmachung. Unfern geehrten Freunden und Bekannten zeigen wir hiermit ergebenst an, daß wir von nun an dem Herrn Traugott Friedrich Bürger in Leipzig ein vollständiges Lager unserer lakirten Waaren in Commission gegeben, und solche nur bei ihm allein in unserm gewöhnlichen Locale, Petersstraße Nr. 37 zu den Fabrikpreisen zu haben sind. Leipzig, den 1. May 1820. Stobwasser und Sohn, aus Braunschweig.“
  • [17] = Derlei Motive spielten bisweilen eine Rolle in der Adelskommunikation; so überlieferte ein Anonymus (1914) folgende Anekdote: „Als Joachim Graf Pocci, der spätere Papst Leo XII., noch Nunzius am Brüsseler Hofe war, zeigte ihm ein Marquis eine Tabakdose, auf deren Deckel ein nacktes Weib in indezenter Stellung dargestellt war. ‚Nun, was sagen Eminenz zu dieser Dose?‘ Leo betrachtete das Bildchen anscheinend aufmerksam und gab sie dann dem Besitzer mit den Worten zurück: ‚Eine sehr hübsche Dame, wohl die Frau Marquise?‘ Dieser soll seine Dose keinem Priester mehr gezeigt haben.“ Zitiert nach Nomen Nescio: Große Souveräne und der Tabak, in: Neues Wiener Journal (Wien), Band 22, Ausgabe Nr. 7432 vom 6. Juli 1914, Seite 2.
  • [18] = Amts-Blatt zur Österreichisch-Kaiserlich privilegirten Wiener Zeitung (Wien), Ausgabe Nr. 79 vom 5. April 1833, Seite 354 („Kundmachung“).
  • [19] = Intelligenzblatt für Mähren (Brünn), Ausgabe Nr. 181 vom 4. Juli 1834, Seite 1120.
  • [20] = Nomen Nescio: Siebzehnhundert Tabakdosen, in: Neues Fremden-Blatt (Wien), Band 10, Ausgabe Nr. 275 vom 7. Oktober 1874, Seite 4. Bisweilen wurde das Dosensammeln von politischen Gegner*innen aufgegriffen, indem der Ehrinstinkt des Dosensammelns wider den Werkinstinkt des Benützens einer Tabaksdose als temporärer Aufbewahrungsort für zu verbrauchenden Tabak ausgespielt wurde; so geschehen bei einem sozialistisch orientierten Nomen Nescio: Die zweiundzwanzig goldenen Tabakdosen des Windischgrätz, in: Salzburger Wacht. Organ für das gesamte werktätige Volk im Landes Salzburg (Salzburg), Band 23, Ausgabe Nr. 166 vom 25. Juli 1921, Seite 5: „In Szegedin wurde ein gewisser Szabo verhaftet, der bei einem Einbruch in die Wohnung des Prinzen Ludwig Windischgrätz 22 goldene Tabakdosen im Werte von drei Millionen Kronen erbeutete hatte. Wie viele Hände von Majestäten mögen Herr Windischgrätz und seine Vorfahren geküßt haben, bis sie in den Besitz von 22 goldenen Tabakdosen gekommen sind? Denn da es einerseits unwahrscheinlich ist, daß Herr Windischgrätz sein Vermögen in Tabakdosen angelegt hat, andererseits aus patriotischen Lesebüchern bekannt ist, daß den Habsburgern, wenn sie ihre Günstlinge sinnig beschenken wollten, nie etwas anderes einfiel als goldene Tabakdosen mit ihrem allerhöchsten Bildnis, dürften wir wohl annehmen, daß die 22 Tabakdosen des Windischgrätz habsburgischen Ursprungs sind. Unter diesen Umständen begreifen wir, daß sich Herr Windischgrätz nur schwer mit dem Gedanken trösten kann, daß in den Zeiten der Tabaknot auch eine Dose ausreichen könnte.“ Zu weiteren kommunikativen Aspekten der Tabakdosen im Adelsbereich siehe indes Lina Matzner: Napoleon und die Tabaksdosen, in: Kleine Volks-Zeitung (Wien), Ausgabe 193 vom 15. Juli 1929, Seite 8.
  • [21] = Dazu siehe Claudia Matz: Warenwelten. Die Architektur des Konsums, Baden-Baden 2018, 514 Seiten (betrifft auf den Seiten 183-202 den Konsumbegriff, den Konsum als Statussymbol, die Konsumtheorie der „conspicuous consumption“ oder des „demonstrativen Konsums“ nach Veblen, den Statuskonsum und den Geltungskonsum mit Anwendbarkeit auf den historischen Adel).
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